Rachesommer
er.
Unwillkürlich dachte sie an Patrick. Seit ihrer Abfahrt im Morgengrauen mit dem Autozug von Sylt hatte sie nicht mehr mit ihm telefoniert. Vermutlich lag er mit Schmerzmitteln zugedröhnt zu Hause auf der Couch und schlief sich gesund. Andernfalls hätte er sich längst bei ihr gemeldet.
»Nein, eigentlich gibt es niemanden.«
»Und wie heißt dieser Niemand?«, fragte Pulaski.
Was für ein Schlauberger! Sie schmunzelte. »Patrick.«
»Ich nehme an, dieser Patrick kann sich glücklich schätzen, jemanden wie Sie zu kennen.«
Es war ihr unangenehm, darüber zu reden, zumal zwischen Patrick und ihr nie etwas passiert war - aber schließlich hatte sie das Thema angeschnitten. »Was hat Ihre Bekannte nun herausgefunden?«
Pulaski stieg darauf ein. »Sie kennt jemanden von der Therapeutischen Wohngruppe für traumatisierte Frauen in Kiel. Nun versucht sie rauszufinden, ob tatsächlich eine Patientin namens Sybil vor vier Monaten dorthin gezogen ist. Anschließend ruft sie zurück.« Er schob ihr Handy in die Tischmitte. »Ich möchte das Gespräch abwarten, bevor ich mich auf den Weg mache. Kiel liegt immerhin hundert Kilometer entfernt.«
Sie warteten eine Weile, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich brach Pulaski das Schweigen.
»Als wir in Lisas Zimmer waren, haben Sie eine lange Reihe von Namen aufgezählt… Kieslinger, Prange, Holobeck, Pelling, Hanson und so weiter. Ich nehme an, das waren die Teilnehmer der Kreuzfahrt. Woher kennen Sie diese Namen?«
Evelyn wartete einen Moment. Sie lauschte in ihr Inneres, doch in ihrem Magen wollte sich kein heißes Kribbeln einstellen. Ihr Gefühl sagte, dass sie Pulaski vertrauen konnte. Schließlich wollte er den Fall genauso rasch lösen wie sie und opferte sogar einen Urlaubstag dafür. Dabei hatte er als Alleinerziehender gewiss andere Sorgen.
»Ich war in der Villa des Reeders, wo ich diese Liste gefunden habe.« Sie kramte das Papier aus ihrer Handtasche, faltete es auseinander und schob es Pulaski über den Tisch.
Er studierte das Blatt aufmerksam. »Gefunden? Einfach so?«
»Ich habe es gestohlen.«
»Alles klar, ich habe kein Problem damit. Ein Name wurde durchgestrichen«, stellte er fest.
»Mittlerweile sind bis auf eine Person alle Männer tot. Die meisten fielen innerhalb der letzten beiden Monate einem Unfall zum Opfer.«
»Sie gehen davon aus, dass diese Männer ermordet wurden?«
Evelyn nickte. »Wie es scheint von Sybil. Ich kann es mir nicht anders erklären. Dazu kommt, dass sie alle erpresst wurden und die vierteljährlichen Zahlungen auf dasselbe anonyme Konto bei der Hamburger Volksbank gingen. Möglicherweise war Manuels Tod das Druckmittel.«
Pulaski ließ die Worte auf sich wirken. Gedankenverloren drehte er eine Zigarette zwischen den Fingern, ohne sie anzuzünden. »Damit bleibt Sybil unsere einzige Spur.«
Wie aufs Stichwort läutete das Telefon. Das Display zeigte eine Nummer mit deutscher Vorwahl.
»Das ist Sonja Willhalm.« Pulaski hob das Handy ans Ohr. »Einen Moment«, sagte er nach einer Weile. »Ich schalte auf Lautsprecher. Evelyn Meyers hört mit.«
Er legte das Telefon auf den Tisch, und sie beugten sich darüber.
»Hallo Frau Meyers, hallo Herr Pulaski, ich hoffe, ich kann Ihnen mit meiner Auskunft weiterhelfen.«
Evelyn wurde warm ums Herz. Die Stimme klang sympathisch, und es tat gut zu hören, dass sie in dieser Angelegenheit nicht allein waren.
»Ich konnte Sybils Nachnamen herausfinden«, berichtete Willhalm. »Sie heißt Woska, Sybil Woska. Sie ist einundzwanzig Jahre alt und hat sich selbst entschieden, die Langzeittherapie abzubrechen und nach Kiel in die Wohngemeinschaft zu ziehen. Die therapeutische Begleitung einer Wohngruppe fördert zwar die Persönlichkeitsentfaltung, ersetzt aber keine ambulante Psychotherapie.«
»Hat sie in der Wohngruppe die Möglichkeit, Reisen ins Ausland zu unternehmen?«, fragte Evelyn.
Willhalm machte eine Pause, ehe sie antwortete. »Ich finde es interessant, dass Sie ausgerechnet diesen Punkt ansprechen.«
Pulaski warf Evelyn einen fragenden Blick zu. »Warum?«
»Weil Sybil vor drei Monaten mit nichts weiter als ihren Kleidern und hundert Euro aus der Küchenkasse getürmt ist. Seitdem ist sie unauffindbar.«
Eine Viertelstunde später saßen sie immer noch im Kaffeehaus. Evelyn hatte vorgeschlagen, ein vegetarisches Omelett für Pulaski zu bestellen, doch er hatte abgelehnt. Offensichtlich war ihm der Appetit gründlich vergangen.
Nachdenklich drehte er die
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