Rachesommer
kompromissbereit - schließlich wollte sie keinen Medienskandal über eine angebliche Sicherheitslücke in ihrer Abteilung riskieren -, andererseits wollte sie Evelyn und Pulaski so schnell wie möglich aus der Klinik draußen haben.
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr begann Pulaski mit den ältesten Bändern, griff wahlweise einige heraus und spulte mit der Fernbedienung zu jenen Stellen, wo Lisa den Mund öffnete, was ohnehin nur selten der Fall war.
Nach den ersten Videos wurde Evelyn klar, warum Doktor Gessler ihnen die Bänder so bereitwillig zur Verfügung gestellt hatte. Insgesamt gab das Filmmaterial nicht viel her. Die Szenen ähnelten sich. Lisa sprach darüber, wie sie geschlafen hatte, über ihre Träume, ihre Tätigkeiten während der Woche, was ihr besondere Freude bereitet und sie gekränkt hatte. Manchmal trug sie Filzpantoffeln zu ihrem blauen Flanellpyjama, manchmal ein mit gelben Punkten gemustertes Kleid, manchmal einen grauen Jogginganzug mit Bändern und Kapuze. Insgesamt bekam Evelyn drei verschiedene Sozialarbeiterinnen zu sehen, die allesamt mit der gleichen sanften und einschläfernden Stimme sprachen, als hätte man ihnen eingetrichtert, in Gegenwart eines Psychiatrie-Patienten niemals ein lautes Wort zu verlieren.
Im schummrigen Dämmerlicht des Therapieraums musste Evelyn öfter gähnen, als ihr lieb war. Die Strapazen der letzten Nacht machten sich bemerkbar. Doch dann war sie schlagartig munter. In einer Videoszene erhitzten sich die Gemüter. Im Sommer letzten Jahres bekam Lisa während der Sitzung einen Anfall. Mitten im Satz veränderten sich ihre Tonlage und ihr Gesichtsausdruck. Plötzlich klang ihre Stimme tiefer und erwachsener. Sie erinnerte sich an etwas - und Evelyn wusste nur zu gut, was es war.
»Der Raum ist eng. Ich bin hungrig, aber sie geben mir kaum was zu essen. Zu trinken gibt es nur lauwarmes Wasser. Ich bekomme einen Brechreiz, sobald ich den Krug sehe. Nachts höre ich das Dröhnen neben der Wand und kann nicht schlafen. Und wenn doch, habe ich immer wieder den gleichen Traum.«
Evelyn starrte auf den Bildschirm. Im Hintergrund der Videoaufzeichnung konnte sie erkennen, wie die Sozialarbeiterin aufsprang und den Raum verließ. Währenddessen sprach Lisa unbeirrt weiter, als befände sie sich allein im Zimmer.
»Sie holen Manuel rauf. Die Abstände werden kürzer. Jedes Mal, wenn er wiederkommt, weint er sich die Seele aus dem Leib. Doch eines Tages hört er auf zu weinen. Er kann sich an nichts mehr erinnern. Sein Blick ist nur noch starr - und das Schlimmste: Er spricht nicht mehr mit mir.«
Mittlerweile kam die Sozialarbeiterin in Begleitung eines Arztes zurück.
Lisa steigerte sich in Rage. Ihre Stimme wurde lauter. »Warum sprichst du nicht mehr mit mir? Was ist los mit dir? Was haben sie mit dir gemacht?«
Der Arzt trat an Lisas Seite und wollte ihr eine Injektion verpassen, doch sie schlug seine Hand mit einer kraftvollen Bewegung beiseite.
»Warum haben sie dir das angetan?«, brüllte sie. Mittlerweile fielen ihr die Haare wirr in die Stirn. Ihr Gesichtsausdruck war voller Wut.
Die Sozialarbeiterin musste Lisa von hinten festhalten, damit ihr der Arzt die Spritze geben konnte. »Was haben sie dir angetan?«
… sie wusste, was ihr angetan worden war. Ihre Schreie und die Stimme des Mannes ließen keinen Zweifel aufkommen. Sie hörte es. Er tat ihrer Schwester das Gleiche an wie ihr. Doch Sandra war zwei Jahre jünger als sie und konnte noch nicht verstehen, was der Mann von ihr wollte. War das der Grund, weshalb er Sandra öfter besuchte als sie?
Wenn sie doch kein Klebeband über dem Mund hätte! Sie könnte nach Sandra rufen, ihr sagen, dass sie nebenan war und dass sie es gemeinsam durchstehen würden. Dass sie die Augen verschließen sollte, wenn er wieder zu ihr kam, und alles gut werden würde … Aber es wurde nicht gut. Sie war geknebelt und in der Mitte des Kellerbodens an einen Eisenring gefesselt. Sie konnte nicht einmal die Wand erreichen, um Klopfzeichen zu geben. Und wenn sie es geschafft hätte? Der Mann hatte gedroht, Sandra zu töten, sollte sie je versuchen, sich zu wehren oder zu befreien.
Nachdem er mit Sandra fertig war, kam er in ihren Raum. Diesmal nur, um die Fesseln und das Klebeband zu überprüfen. So, wie er es jede Nacht tat, bevor er mit seinem Kastenwagen davonfuhr. Minuten später hörte sie das Tuckern des Motors. Kaum war das Scheinwerferlicht vor ihrer Fensterluke verschwunden, begann sie, das Seil
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