Rachesommer
Zigarette zwischen den Fingern. »Sybils Spur löst sich im Nichts auf.«
»Sie haben sich zumindest eine Autofahrt von hundert Kilometern erspart.«
»Ein schwacher Trost. Sybil könnte überall sein. Glauben Sie, dass sie sich für Lisa hält und deren Identität angenommen hat?«
»Möglich.« Evelyn zuckte mit den Achseln. »Falls ja, muss sie ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsbedürfnis entwickelt haben, um an Lisas Stelle den Tod von deren Bruder zu rächen.«
»Den sie nicht mal kannte«, vollendete Pulaski den Satz. »Bloße Rache - oder steckt mehr dahinter?« Er deutete auf Hockinsons Liste. »Sie sagten, einer dieser Männer sei noch am Leben. Wer?«
»Das hat Patrick mir nicht verraten.«
»Kriegen wir es aus ihm heraus?«
»Keine Chance.«
»Mist.« Pulaski starrte auf das Blatt. »Rekapitulieren wir, was wir wissen. Vor vier Monaten ließ sich Sybil in ein betreutes Wohnheim überstellen, einen Monat danach ist sie von dort abgehauen, und kurz darauf begann die Mordserie. Soviel wir bisher über Sybil wissen, ist sie clever, plant ihre Taten genau, tarnt sie als Unfälle und geht höchstwahrscheinlich systematisch vor. Wann hat sie Ihrer Meinung nach wo zugeschlagen?«
Evelyn schloss die Augen und massierte ihre Schläfen. »Es begann damit, dass sie vor etwas mehr als zwei Monaten Paul Smolle in seinem Wohnwagen auf Sylt besuchte. Er war der Kapitän der Friedberg. Von ihm erfuhr sie, dass Edward Hockinson hinter der Kreuzfahrt steckte.«
»Hat sie diesen Smolle auch ermordet?«
»Er hat den Kindern nie etwas angetan. Sie ließ ihn am Leben, doch gestern Nacht, als ich bei ihm war, beging er Selbstmord.«
Pulaski sah sie traurig an. »Das muss schlimm für Sie gewesen sein.«
»Deswegen muss ich heute noch nach Flensburg, um eine Aussage zu machen.«
»Das kann warten. So schnell arbeiten die Kollegen bei einem Selbstmord nicht. Erzählen Sie weiter!«
Sie dachte an Sybil. Plötzlich rieselte ihr ein Schauer über den Rücken. Sie richtete sich auf. Mit einem Mal wurden ihr die Zusammenhänge klar. »Genau! Anschließend fuhr Sybil zu Hockinsons Villa nach Cuxhaven. Ich habe mit Hockinsons Tochter gesprochen. Sie erzählte mir, dass vor etwa zwei Monaten in ihr Haus eingebrochen und der gesamte Familienschmuck gestohlen worden ist.«
»Raffiniertes kleines Luder«, kommentierte Pulaski.
»Mit dem Geld aus dem Verkauf des Schmucks finanzierte sie vermutlich ihre Reisen durch Deutschland und Österreich.«
»Ein Klacks für ein Kind, das auf der Straße aufgewachsen ist.«
»Aber eigentlich war sie in der Villa auf der Suche nach etwas völlig anderem. Sie muss die Liste in Hockinsons Arbeitszimmer gefunden und sämtliche Namen und Adressen abgeschrieben haben. Und danach ging es los.«
»Mit welchem Zeitplan?«, fragte Pulaski.
Evelyn versuchte, sich zu erinnern. »Heinz Prange war möglicherweise das erste Opfer. Er starb vor etwa zwei Monaten in den Berchtesgadener Alpen. Rudolf Kieslinger vor knapp drei Wochen in Wien. Edward Hockinson letzten Freitag auf einer Küstenstraße an der Nordsee … und Peter Holobeck vor drei Tagen in seinem Wiener Apartment.«
»Das ergibt keinen Sinn«, überlegte Pulaski. »Warum sollte Sybil zuerst nach Wien fahren, dann rauf zur Nordsee und anschließend wieder nach Wien? Und aus welchem Grund hat sie den Reeder nicht gleich an jenem Tag ermordet, als sie in seine Villa eingebrochen ist, sondern erst Wochen später?«
»Ablenkung?«, vermutete Evelyn.
Pulaski schüttelte den Kopf, während er auf die Liste starrte. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Er schob das Blatt herum. »Sehen Sie sich die Reihenfolge an.«
Heinz Prange Rene Manzon Mark Pelling Kurt Hanson Richard Ruschko Martin Ritter Rudolf Kieslinger Thomas Eberhardt Georg Pallock Edward Hockinson Peter Holobeck Alfons Bolten XXXXXX
»Prange, Kieslinger, Hockinson, Holobeck …«, flüsterte Evelyn. »Sie geht der Reihe nach vor.«
»Als wollte dieses kleine Biest die Liste Zeile für Zeile abarbeiten.«
Evelyn wurde schwindelig. »Das würde bedeuten, dass sie seit Monaten kreuz und quer durch die Gegend fährt, ohne Orte sinnvoll miteinander zu verknüpfen.« Von einer solch verrückten Methode hatte sie noch nie gehört, doch scheinbar funktionierte Sybils Gehirn auf einer anderen Wellenlänge.
Plötzlich zeigte sie mit dem Finger auf den letzten Namen. »Falls Sie Recht haben, ist Alfons Bolten der letzte Überlebende dieser Todesliste.«
»Wie lange noch?«
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