Rachesommer
Pulaski zog das Blatt zu sich und betrachtete die Adresse. »Der Mistkerl wohnt in Cuxhaven.« Er blickte auf die Armbanduhr. »Falls die Anschrift noch stimmt, könnten wir in zwei Stunden dort sein.«
»Wir?«, echote Evelyn.
»Ich würde diesem Bolten gern einen unangekündigten Besuch abstatten. Begleiten Sie mich?«
Sie dachte an Smolles Selbstmord und ihre Aussage. »Aber…«
»Flensburg kann warten«, unterbrach er sie. »Ich kläre das mit meinem Vorgesetzten.«
»Sie sind doch im Urlaub«, erinnerte Evelyn ihn.
»Soll das etwa ein normaler Urlaubstag sein?« Er lächelte traurig. »Das Gespräch mit meinem Chef ist ohnehin längst fällig. Horst Fux wird toben …«
Sie schob ihm ihr Handy hin, und er telefonierte nach Leipzig. Das Gespräch verlief alles andere als sachlich. Wieder einmal blickten die anderen Gäste der Cafeteria neugierig zu ihnen herüber. Mittlerweile wurde es höchste Zeit, von hier zu verschwinden. In der Hamburger Klinik hatten sie zwar einen bleibenden Eindruck hinterlassen, aber sicher nicht den besten.
Als Pulaski sich etwas beruhigt hatte, ließ er sich zu einem gewissen Malte weiterverbinden. Kurz darauf notierte er eine Telefonnummer unter Boltens Adresse. »Danke.« Er unterbrach die Verbindung.
Sie bemerkte, dass er schadenfroh in sich hineinschmunzelte.
»Hat man Sie mit vollen Abfindungsansprüchen vom Dienst suspendiert?«
»Schön war’s. Ich habe mich während des Urlaubs selbst in den Dienst gestellt. Mein Chef hat es nun offiziell bestätigt. Ihm blieb nichts anderes übrig. Immerhin habe ich gestern einen Verdächtigen angeschossen, eine Fahndung eingeleitet und heute Personenschutz angefordert … aber das ist egal! Wichtig ist, dass die Adresse noch stimmt. Es handelt sich um einen gewissen Doktor Alfons Bolten, einen pensionierten Jugendrichter.« Beeindruckt hob er die Augenbraue. »Sozusagen ein Kollege von Ihnen.«
Wie Holobeck. Somit war Bolten nicht der einzige Kollege mit Dreck am Stecken, dachte sie bitter.
»Das ist seine Telefonnummer«, fügte Pulaski hinzu, als er bereits wählte.
»Und was sagen Sie, wenn er abhebt?«, flüsterte Evelyn. »Ich dachte, wir wollen unangekündigt vorbeikommen?«
»Wollen wir auch … Schscht!« Pulaski lauschte, dann legte er auf. »Er ist zu Hause.«
Ein kalter Schauer erfasste sie. »Ich komme mir vor wie bei einer verdeckten Ermittlung.«
»Möchten Sie aussteigen?«
»Nein!«
Pulaski grinste. »Mutiges Mädchen. Wir besitzen zufällig das gleiche Handy. Haben Sie ein Ladegerät für Ihres dabei?« Evelyn nickte.
»Ich würde es mir während der Fahrt gern ausborgen, um meinen Akku aufzuladen. Bei meiner Rostlaube sind zwar die Stoßdämpfer im Eimer, aber der Zigarettenanzünder funktioniert noch.«
»Da ich anschließend sowieso zum Hamburger Flughafen zurück muss, könnten Sie Ihr Auto hier stehen lassen, und wir fahren gemeinsam nach Cuxhaven«, schlug sie vor.
»Sagen Sie bloß, Sie haben etwas Besseres als einen klapprigen Skoda anzubieten?«
»Einen Sixt-Leihwagen.«
»Oh.« Er hob die Augenbrauen. »Mit Rauchverbot im Auto?«
»Natürlich. Wollten Sie es sich nicht ohnehin abgewöhnen?«
»Richtig.« Er strich sich mit der Hand nachdenklich übers Kinn. »Angebot dankend angenommen. Ich schlage vor, wir fahren über Bremen und Bremerhaven die Küste rauf. In spätestens zwei Stunden sind wir in Cuxhaven. Ich muss aber vorher noch in meinen Wagen, ein Reservemagazin für die Walther holen - nur sicherheitshalber, falls ein Problem auftaucht«, beruhigte er sie.
Evelyn bekam große Augen. »Welches Problem sollte auftauchen?«
»Ich weiß es nicht, aber seit ich an diesem Fall arbeite, habe ich nur noch Probleme am Hals.«
59
Evelyn klemmte sich auf der Autobahn an die Rücklichter eines Porsches. Währenddessen lief ihre CD von Enya. Pulaski schien es egal zu sein. Hauptsache sein Handy hing am Ladegerät.
Mit Ausnahme eines Tankstopps verlief die Fahrt ohne Unterbrechung. Pulaski lotste sie auf dem schnellsten Weg nach Cuxhaven. Eigentlich hätte sie nicht vermutet, jemals wieder in diese Gegend zu kommen, nachdem sie erst gestern die Hockinson-Villa fluchtartig verlassen hatte - zumindest nicht nach so kurzer Zeit.
Während sie durch die Stadt fuhren, tippte sie Boltens Adresse in ihr Navigationssystem. Das Grundstück lag nicht weit von Greta Hockinsons Anwesen entfernt. Die gleiche Villengegend in der Nähe des Strandes, die sie bereits kannte.
Hohe Hecken umgaben
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