Rachesommer
das Grundstück. Evelyn parkte direkt neben dem Eingang. Pulaski stieg aus, drehte den Kopf in alle Richtungen und streckte das Kreuz durch. Evelyn hörte die Wirbel knacken und sah sein schmerzverzerrtes Gesicht.
»Anstrengende Fahrt?«, fragte sie.
»Sie haben einen beruhigenden Fahrstil, aber ich bin es nicht mehr gewöhnt, so lange Strecken zu fahren.«
Diesmal verzichtete er auf Mantel und Krawatte und begnügte sich mit seinem Sakko.
Sie gingen zum Tor.
Soweit Evelyn durch das Gitter erkennen konnte, war Boltens Haus nicht so schmuckvoll wie jenes der Hockinsons, sondern entsprach eher einer modernen, kühlen Bauweise. Jede Fensterfront des L-förmigen Bungalows war mit glänzenden, chromfarbenen Metalljalousien verschlossen. Zwei Satellitenschüsseln prangten auf dem Flachdach, und von jeder Hausecke lugte eine Videokamera herunter. Fort Knox war vermutlich nicht weniger gut bewacht.
Pulaski öffnete das Tor und betrat das Grundstück. Evelyn folgte ihm über den Kiesweg, der zum Hauseingang führte.
»Der Herr Richter ist noch immer zu Hause.« Pulaski nickte zur Garage, die an das Haus grenzte.
Das Tor stand offen. Im Carport parkte ein grauer Mercedes mit weißen Sitzbezügen und grauem Fellbezug über dem Lenkrad. Dass tatsächlich noch jemand so etwas verwendete … In Evelyns Augen wirkten diese Wagen immer wie Altmänner-Fahrzeuge. Zumindest war es in Österreich so. Die Fahrer trugen meist Hüte und fuhren nie schneller als sechzig km/h auf den Überlandstraßen, was sie stets erboste.
Der Garten machte einen gepflegten Eindruck. Die Abendsonne blitzte durch die Bäume. Es roch nach Rindenmulch und frisch gemähtem Gras. In den Rosenbeeten lag kein einziges welkes Blatt, und die Kieselsteine auf den Wegen waren wie mit einem Rechen geformt. Seltsamerweise standen ein fleckiger Kanister und ein benzinbetriebener Rasentraktor neben dem Komposthaufen, was das Bild des perfekten Gartens zerstörte. Entweder beschäftigte Bolten einen Gärtner, oder er hatte im Ruhestand das Hobby der Rasenpflege entdeckt - neben seiner Leidenschaft für Kreuzfahrten mit pädophilem Zweck. Wie sah der Kerl wohl aus? So wie die Hecken und Wiesen in Schuss waren, erwartete sie einen attraktiven, kultivierten Herrn in den besten Jahren. Aber wieder einmal bestätigte sich, dass der äußere Anschein oft über die inneren Abgründe eines Menschen hinwegtäuschte.
Pulaski nahm den Treppenaufgang, trat unter das Vordach und betätigte die Glocke. Allein der Klang des Gongs und der entsprechende Hall hinter der Tür verrieten, dass in diesem Haus keine armen Leute wohnten.
Evelyn stellte sich neben Pulaski auf den Vorplatz aus Marmorsteinen. »Werden Sie mich wieder als Kollegin vorstellen?«
Pulaski musterte sie von der Seite. »Hätten Sie das gern?«
»Irgendwie macht es Spaß.«
»Das glaube ich Ihnen, aber was wir gleich rausfinden werden, ist garantiert nicht lustig.«
»So meinte ich das nicht.«
»Ich weiß.« Er betrachtete sie noch einmal. »Ehrlich gesagt, hatte ich noch nie so eine hübsche Kollegin.«
Evelyn lachte. Merkwürdigerweise hätte sie das vor wenigen Tagen noch nicht getan. Sie wäre peinlich berührt gewesen, doch stattdessen fühlte sie sich geschmeichelt. »Vielen Dank, aber Sie verschwenden Ihre Komplimente an die Falsche.«
»Ja, ja, Sie sind an diesen Patrick vergeben.«
»Ich dachte eher an Sonja. Ihr sollten Sie Komplimente machen.«
Er lächelte. »Das werde ich … sobald ich zurück bin.« Er betätigte erneut die Glocke.
Kurz darauf öffnete sich die Tür. Sie war aus massivem Holz, und Evelyn bemerkte die fünf Sicherheitsbolzen im Rahmen.
Evelyn hätte den Mann, der im Türrahmen stand, in ihrer Vorstellung nicht besser skizzieren können. Er war groß und stattlich, besaß graumelierte Schläfen und trug einen dunklen Maßanzug. An seinen gepflegten Fingern erkannte sie, dass er den Rasen nicht selbst gemäht hatte.
»Herr Bolten?«, fragte Pulaski.
»Sie wünschen?«
Bei der sonoren Stimme, die wie die eines Werbesprechers klang, fiel wohl jede Frau in Ohnmacht, dachte Evelyn.
Pulaski zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und klappte das Lederetui auf. »Walter Pulaski, Kriminalpolizei Leipzig, und meine Kollegin Evelyn Meyers für juristische Fachfragen. Haben Sie einen starken Kaffee für uns?«
Es schien, als benötigte der Mann einige Sekunden, um die Frage zu verstehen. »Bedaure, ich habe keinen Kaffee im Haus. Kann ich Ihnen anderweitig helfen?«, fragte
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