Rachesommer
sich nun einmal nicht.
Als die Kollegen gegen Mittag mit ihrer Arbeit in der Anstalt fertig waren, hatte Pulaski ihnen zweierlei eingeschärft: Erstens wollte er so rasch wie möglich wissen, ob Natascha vergewaltigt worden und vielleicht sogar schwanger war. Zweitens musste ein Gutachten erstellt werden, ob die Handschriften auf dem Abschiedsbrief und in dem Tagebuch tatsächlich von Natascha stammten. Und dann war da natürlich die Todesursache. Reichten eine Flasche Gin und 1000 mg Paracetamol tatsächlich aus, um ein Mädchen von vierzig Kilogramm ins Jenseits zu befördern?
Mittlerweile war es drei Uhr nachmittags. Pulaski saß mit einem Berg von Akten in dem Besprechungszimmer der Anstalt. Hanna, die blonde Chefarzt-Assistentin mit der Hornbrille, kümmerte sich notgedrungen um ihn und versorgte ihn widerwillig mit frischem Kaffee, Eier- und Käsesandwiches und einer Packung Ernte 23, die sie irgendwo für ihn aufgetrieben hatte.
Der Aschenbecher war voller Zigarettenkippen. Obwohl das Fenster offen war, hing der Rauch im Raum. Es war ein warmer Septembertag. Die Sonne stand noch einigermaßen hoch, und draußen rauschten die mächtigen Silberlinden im Wind. Irgendwo knatterte ein Rasenmäher. Ab und zu trug der Luftzug den Geruch von Blättern und frisch gemähtem Gras herein. Doch Pulaski war zu sehr mit den Unterlagen beschäftigt, um sich in der Parkanlage die Beine zu vertreten.
Sein Handy läutete permanent. Entweder war es Horst Fux, der Dezernatsleiter, der ihn stündlich mit neuen Fragen nervte, jemand von der Presse, die in der Zwischenzeit herausgefunden hatte, was passiert war, ein Kollege von der Spurensicherung oder der Staatsanwalt, der erst einmal handfeste Fakten auf dem Tisch haben wollte, bevor er auch nur einen Antrag ans Gericht weiterleitete. Doch wie sollte Pulaski ohne Durchsuchungsbefehl an handfeste Beweise rankommen? Da biss sich die Katze in den Schwanz! Wie immer!
Unterdessen wusste das gesamte Hauspersonal, was in Zimmer 27 passiert war. Heinrich Wolf, der Ärztliche Direktor mit dem plumpen Auftreten eines Grizzlybären, hatte sogar schon die Rechtsanwälte der Klinik aktiviert, die Pulaski bei jedem Handgriff auf die Finger sahen. Dank des Eingreifens von Fux konnte Pulaski die Unterlagen in dem Besprechungszimmer allein durchsehen, ohne dass eine Hand voll Anwälte auf seinem Schoß saß. Aber wie lange noch? Bei seiner Ankunft an diesem Morgen hatten sich die Ärzte noch gewundert, warum er nicht mit einem Dutzend Kollegen im Schlepptau gekommen war. Mittlerweile wollte man ihn so rasch wie möglich aus der Anstalt draußen haben - und je mehr unbequeme Fragen er stellte und je mehr Unterlagen er sehen wollte, desto undurchdringlicher wurde die Mauer des Schweigens. Während er hier saß und die ersten Akten las, lief das Politspiel hinter seinem Rücken bereits auf Hochtouren. Bald würde der Oberbürgermeister von Markkleeberg in die Sache involviert werden, und wenn die ersten Presseautos vor der Tür parkten und die Reporter ihre Kameras zückten, war es vorbei mit der Ruhe. Immerhin standen Landtagswahlen bevor. Ein blöder Zeitpunkt für einen Mord in einer Landesklinik.
Pulaski hatte nicht nur einmal erlebt, dass begonnene Ermittlungen plötzlich im Sand verliefen, weil der Staatsanwalt das Verfahren überraschend einstellte und bei einer Pressekonferenz verkündete, nach - sogenannten - »intensiven« Recherchen habe sich Selbstmord als Todesursache bestätigt. Manchmal zweifelten die Ermittler an der offiziellen Version, doch auch sie verrichteten nur ihren Job - vor allem dann, wenn die Staatsanwaltschaft eine Order des Justizministeriums erhielt. All das war nicht korrekt, aber es kam vor.
Hier lief mit Sicherheit ein ähnliches Marionettentheater im Hintergrund ab. Es ging um Macht- und Ränkespiele, den guten Ruf der Anstalt, die Verteilung von Posten und Gehältern und um riesige Summen von Steuergeldern, die Jahr für Jahr in der Klinik verschwanden. Wer über Beziehungen verfügte, saß auf dem längeren Ast - und Natascha, das Mädchen mit der burschikosen Kurzhaarfrisur, den osteuropäischen Gesichtszügen und den Sommersprossen auf der Stupsnase, hatte auf dem kürzesten Ast gesessen, den es nur gab. Ein Waisenkind ohne Angehörige, das seit zehn Jahren in der Klapse lebte. Ihr Tod kümmerte niemanden und wirbelte in den Augen vieler Politiker nur unnötig Staub auf. Pulaski sah das anders.
Umso schneller musste er sich durch den Aktenberg
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