Rachesommer
Vaters.«
17
Das dumpfe Läuten der »Steinernen Glocke« drang aus der Kapelle durch den Park. Walter Pulaski hörte die Schläge wegen der dicken Mauern nur leise. Er hockte im Keller des Psychiatriegebäudes. Angeblich gab es in diesem fensterlosen Raum den einzigen Videorekorder, aber er wusste, dass die Ärzte ihn in den Keller verbannt hatten, um ihn loszuwerden. Ihm war das gleichgültig, solange er einen Blick auf die Filme der Überwachungskameras werfen konnte.
Vor einer Stunde hatte er mit seiner Tochter telefoniert, um ihr zu sagen, dass er diesmal später heimkommen würde. Mittlerweile war es längst Nacht, aber hier unten, in dem nach Schimmel und feuchtem Kalk miefenden Raum mit den frei liegenden Heizungsrohren, war das ohnehin egal. Pulaski wechselte die Videokassette. So alt wie das Gebäude selbst, so altertümlich wirkte auch die Art der Videoüberwachung. Kein digitales System auf dem Server, mit Dutzenden Festplatten, Bewegungsmeldern und automatischer 48-Stunden-Überwachung. Hier liefen die Uhren noch anders. Die drei bei den Toren der Anstalt montierten Kameras filmten von Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen. Der Nachtportier wechselte die Videobänder alle vier Stunden. Falls es keine besonderen Vorkommnisse gab, wurden die Filme nach zwei Tagen überspielt.
Doch diesmal gab es einen Vorfall. Jemand hatte Natascha Sommer heimtückisch eine Überdosis Schmerzmittel verpasst. Daran bestand für Pulaski kein Zweifel, auch wenn er bisher kein Motiv für einen Mord gefunden hatte. Außer ihm krähte kein Hahn danach, ob sich das stumme Mädchen, dessen Name und wahre Identität niemand kannte, intravenös selbst eine Überdosis verabreicht hatte oder nicht. Ohne Motiv ließ sich Mordverdacht vor dem Staatsanwalt nur schwer rechtfertigen. Wer sollte schon einem Mädchen das Licht ausknipsen, das seit zehn Jahren unauffällig in der Irrenanstalt hockte? Bisher war Nataschas Abschiedsbrief Pulaskis wichtigstes Indiz gewesen. Aber nachdem im ersten gerichtsmedizinischen Befund nichts über Hinweise auf Vergewaltigung oder äußere Gewaltanwendung stand, war der Inhalt des Abschiedsbriefs der geistigen Unzurechnungsfähigkeit des Mädchens zugeschrieben worden - und Pulaskis Indiz hatte sich wie Rauch im Wind verflüchtigt.
Noch dazu hatte dieser Lackaffe von Staatsanwalt weder seinen Antrag auf einen Durchsuchungsbeschluss an das Gericht weitergeleitet noch der Einsicht in die Krankenakten oder dem Verhör der Patienten zugestimmt. Offensichtlich sah er die Sache anders als Pulaski. Oder fürchteten die Politiker, dass zu viel negative Publicity aufgewirbelt werden könnte?
Umso mehr ging Pulaski die Sache an die Nieren. Den genauen Grund kannte er nicht. Entweder waren es die osteuropäischen Gesichtszüge des Mädchens, das möglicherweise aus der Ukraine stammte und ihn an die Herkunft seiner Eltern erinnerte - oder einfach nur die Tatsache, dass die zarte und zerbrechliche Natascha bloß ein paar Jahre älter gewesen war als seine Tochter.
Nach dem Tod seiner Frau war es nicht einfach gewesen, das Mädchen ohne fremde Hilfe aufzuziehen. Noch dazu bei seinem Job. Im Moment saß die Zwölfjährige bestimmt allein zu Hause, zappte durch die Fernsehprogramme und wartete auf ihn, auch wenn er sie gedrängt hatte, schlafen zu gehen.
Gedankenverloren öffnete er die Brieftasche und betrachtete das Foto seiner Tochter. Wenn dich jemand mit 1000 Milligramm Paracetamol getötet und es als Selbstmord getarnt hätte, wäre die gesamte Leipziger Kripo auf den Beinen - das schwöre ich dir. Bei Natascha gab es keinen Druck durch die Öffentlichkeit. Im Gegenteil. Man wollte die Sache unter den Teppich kehren und wie so oft waren die Bestrebungen größer, den Fall abzuschließen, als die Recherchen voranzutreiben. Tatsächlich gab es nur zwei Personen, denen die Aufklärung am Herzen lag: ihn selbst und Sonja Willhalm. Die Therapeutin musste sich soeben ein Stockwerk höher eine Standpauke des Chefarztes anhören, weil sie Nataschas Krankenakte ohne Zustimmung des Direktors an Pulaski weitergegeben hatte. In der Zwischenzeit würde er so lange weitermachen, bis der Staatsanwalt die Ermittlungen einstellte - womit jeden Augenblick zu rechnen war.
Pulaski hatte im Schnellvorlauf das Ende des Videobandes erreicht. Darauf war nichts Verdächtiges zu sehen gewesen. Er schob die nächste Kassette in den Rekorder: die Einfahrt an der Rückseite des Grundstücks, zwischen zwei und sechs Uhr
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