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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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früh. Schnellvorlauf. Die Kamera schwenkte automatisch in einem Halbkreis über das Gelände. Das geschlossene schmiedeeiserne Tor, die hohe Mauer, der Kiesweg, die Linden, die sich im Wind bogen, und die Wiese, die im silbernen Mondlicht glänzte. Das übliche weiße Flimmern im oberen und unteren Drittel der Mattscheibe. Sonst keine Bewegung.
    Pulaskis Augen tränten bereits vom Zigarettenqualm, dem Flimmern des Bildschirms und dem Flackern der Neonröhre. Da riss ihn das Läuten seines Handys aus dem Halbschlaf. Er starrte aufs Display, und sein Magen zog sich zusammen. Horst Fux, sein Chef.
    »Pulaski, bist du noch bei den Irren?«
    »Ja«, knurrte er. Zwecklos, seinem Chef den Unterschied zwischen einer Irrenanstalt und einer psychiatrischen Klinik für multiple Persönlichkeitsstörung zu erklären.
    Die digitalen Ziffern rasten im Zeitraffer über den Bildschirm. 03:15:47 Uhr. Die Äste der mächtigen Silberlinden zappelten im Wind hin und her. Die weißen Streifen ruckten auf und ab.
    »Ich hatte eben ein interessantes Gespräch. Konferenzschaltung.« Die Stimme von Horst Fux klang blechern. Offensichtlich hatte er die Lautsprecherfunktion aktiviert. »Der Untersuchungsrichter, die Anwälte der Klinik, der Oberbürgermeister, der Kriminaldirektor und Staatsanwalt Kohler.«
    Staatsanwalt Kohler! Er hasste den Lackaffen. »Und?«
    03:16:51 Uhr. Bis auf die flimmernden weißen Streifen war keine Bewegung auf dem Bildschirm zu sehen.
    »Die Spurensicherung fand nur die Fingerabdrücke der Kleinen auf den Beweismitteln. Außerdem keine Vergewaltigung, keine Anzeichen einer Gewaltanwendung …«
    »Erzähl mir was Neues.« Pulaski nippte am kalten Kaffee.
    03:18:31 Uhr. Nur der Wind.
    »Was Neues?«, bellte Fux. »Erzähl du mir was Neues! Was denkst du dir dabei, dem Staatsanwalt die Öffnung sämtlicher Krankenakten vorzuschlagen, ohne mich vorher darüber zu informieren? Der Ärztliche Direktor der Klinik und sein Chefarzt haben sich schon über dich beschwert. Du fuhrwerkst wie ein Berserker in der Klinik …«
    Seit wann fuhrwerkten Kripobeamte nicht wie Berserker?
    »… und du hast die Therapeutin der Kleinen dazu genötigt, dir ihre Akte auszuhändigen.«
    »Was?« Pulaski fuhr vom Stuhl hoch. Sonja Willhalm hatte sie ihm freiwillig gegeben. Was für ein Mist lief hier?
    »Jedenfalls bewertet Kohler den Sachverhalt anders als du. Das Verfahren wurde eingestellt. Er hat die Leiche zur Beerdigung freigegeben. Pack zusammen. Das vorläufige und vermutlich auch endgültige Urteil der Gerichtsmedizin lautet: Selbstmord.«
    Pulaski verschüttete den Kaffee, als er die Tasse hastig auf den Tisch stellte, um nach der Fernbedienung zu greifen. In dem Moment, als die Kamera von der Mauer wegschwenkte, bewegte sich etwas am rechten Bildschirmrand.
    »Hast du mich gehört?«, bellte Fux.
    »Was …? Ich habe kein Wort verstanden …« Pulaski hielt das Band an, spulte zurück und drückte auf Wiedergabe. Fux wiederholte seine Worte, diesmal noch gereizter.
    Pulaski hörte nur mit einem Ohr zu. Seine Augen fixierten den Monitor.
    03:22:39 Uhr. Eine Gestalt kletterte unbeholfen über die Mauer. Als die Kamera wieder an die Stelle zurückschwenkte, war gerade noch zu erkennen, wie die Person im Schatten der Linden über den Rasen zum Hintereingang der Anstalt lief.
    »Was …?«, rief Pulaski. Er kratzte mit dem Fingernagel über das Mikrofon des Handys. »Die Verbindung … ich verstehe dich … nicht.« Mit der anderen Hand spulte er den Film noch einmal an jene Stelle zurück, an der die Gestalt über die Mauer kletterte.
    »Keine weiteren Ermittlungen, der Aktendeckel ist zu!«, rief Fux. »Hallo …?« Fux tobte.
    »Die Verbindung …«, nuschelte Pulaski. Er hielt das Handy von sich und rieb mit dem Finger über das Mikrofon. »Ich glaube, ich …« Dann unterbrach er die Verbindung und schaltete das Handy aus. Fux, der Staatsanwalt, die Politiker und Anwälte konnten ihn kreuzweise.
    Er starrte auf das Standbild des Monitors. Am Bildschirmrand reckte eine Person den Oberkörper über die Mauer. Im Mondschein war zumindest etwas zu erkennen: ein älterer Mann mit grauen Haaren.
     
    17
     
    Zehn Uhr nachts. Die Gänge der Kanzlei Krager, Holobeck & Partner lagen im Dunkel. Nur in der Teeküche brannte gedimmtes Licht. Evelyn Meyers drehte soeben das Radio lauter. In den Spätnachrichten wurde Holobecks tragischer Unfall erwähnt. Doch der Sprecher sagte nur, dass der Anwalt über die Balkonbrüstung gestürzt und

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