Rachesommer
er über die Schulter.
Evelyn folgte ihm. »Ich wollte Sie bitten …«
»Sie wollen wissen, was die Polizei gesagt hat?«, unterbrach er sie. »Holobeck ist vom Balkon gestürzt, mehr weiß ich nicht.«
Vom Balkon? Evelyn hielt für einen Moment inne. Sein Penthouse lag im dreiundzwanzigsten Stock. »Selbstmord?«, fragte sie.
»Die Beamten sind sicher, dass es ein tragischer Unfall war. Morgen sind die Zeitungen wahrscheinlich voll davon. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, Evelyn. Ich habe im Moment viel um die Ohren.«
Er sperrte die Tür zu seinem Büro auf und marschierte hinein. In den nächsten Tagen standen ihm Dutzende Behördenwege bevor - vor allem auch deshalb, weil Holobeck keine Angehörigen hatte. Wenn es einen ungünstigen Moment gab, ihn um etwas zu bitten, dann jetzt. Aber sie konnte nicht warten.
Sie betrat sein Büro. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«
Krager sah auf. »Wollen Sie mir etwa Ihre Juniorpartnerschaft anbieten?«
Sie schluckte. Selbst in einem Augenblick wie diesem verlor er seinen Galgenhumor nicht. »Ich würde gern Einsicht in Holobecks Akte Prange gegen Austrobag GmbH nehmen.«
»Der Airbag-Fall?« Krager runzelte die Stirn. »Wozu? Der Fall ist verloren. Haben Sie die Zustimmung der Mandantin eingeholt?«
»Nein, ich wollte nur …«
»Die Mandantin hat ausdrücklich darum gebeten, den Fall vertraulich zu behandeln. Die Schweigepflicht verbietet mir, die Unterlagen an Sie weiterzugeben, selbst für eine Sekunde, das wissen Sie haargenau! Tut mir leid.«
Zum Glück wusste er nicht, dass sie den Fall beim Mittagessen im Andante bereits mit Holobeck besprochen hatte. Sonst wäre er wohl die Wände hochgegangen.
Krager nahm einige Papiere aus dem Safe. Evelyns Blick fiel auf Firmenbuchauszüge und eine Mappe mit Verträgen. »Ich treffe mich jetzt noch mit den Pressefritzen, die einen Nachruf auf Holobeck bringen wollen. Morgen früh muss ich wegen der Todesfallaufnahme zum Notar, danach zur Rechtsanwaltskammer, die Stellvertretung für die laufenden Verfahren besprechen, und anschließend die Beerdigung veranlassen.« Er stöhnte auf. »Außerdem kommt noch die Änderung im Firmenbuch auf mich zu.«
Mit diesen Worten schob er sie aus seinem Büro.
Bitte nicht die Tür abschließen, dachte sie, als sie neben ihm im Gang stand. »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann …«
»Nicht nötig, Evelyn. Danke.«
Er sperrte die Tür ab und ließ den Schlüssel in seiner Hosentasche verschwinden.
Evelyn starrte aus dem Fenster der Teeküche und lauschte dabei dem Rattern des Fahrstuhls, als Krager ins Erdgeschoss fuhr. Der nächtliche Verkehr wälzte sich durch die Innenstadt. Die Leuchtreklamen verwandelten die Dunkelheit in ein buntes Lichtermeer. Ihr Spiegelbild in der Scheibe sah müde aus. Wie hatte ihr Vater immer gesagt? Mach dir keine Sorgen, vom vielen Grübeln bekommst du nur Falten.
Als das Handy schrillte, zuckte sie zusammen. Es war Patrick.
»Was hast du rausgefunden?«, fragte sie.
»Dein Kollege ist über den Balkon gesegelt.«
Wie feinfühlig! »Das weiß ich bereits. Irgendwelche Details?«
»Nicht am Telefon.«
»Ziehst du jetzt wieder deine Candle-Light-Nummer durch?«
»Nein, darum geht es nicht. Die Unterlagen, über die wir reden, kauft man nicht einfach am Kiosk - und man bespricht sie nicht am Telefon.«
»Sag mir wenigstens, ob es ein Unfall war!«
Patrick seufzte. »Ja - aber falls die Kripo sich irrt, wurde dein Kollege so raffiniert um die Ecke gebracht, dass es wie einer aussah.« Er machte eine Pause. »Was hast du über die junge Frau aus dem Cafe in Bad Reichenhall rausgefunden?«
Sie sah in den Korridor zu Kragers versperrter Tür. »Nichts.«
»Was heißt nichts?«, entfuhr es Patrick. »Während ich Himmel und Hölle in Bewegung setze und rausfinde, wie dein Kollege über die Brüstung gehüpft ist, kommst du nicht mal an eine lausige Akte ran?«
»Ich müsste die Tür zum Büro deines Vaters aufbrechen, und meine Ausbildung im Baader-Meinhof-Camp liegt schon lange zurück.«
Er lachte. »Wenigstens hast du deinen Humor nicht verloren. Bist du noch im Büro?«
»Ja, aber nicht mehr lange. Entweder gehe ich noch eine Runde joggen, oder ich fahre nach Hause und fange mit einem neuen Buch an.«
»Bleib dort«, bat Patrick. »Ich komme zu dir. Erstens will ich dir das Polizeiprotokoll von diesem angeblichen Unfall zeigen - und zweitens habe ich immer noch den Zweitschlüssel zum Büro meines
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