Rachesommer
sofort tot gewesen sei. Genervt schaltete Evelyn das Gerät aus. Würde sie je mehr darüber erfahren?
Endlich hörte sie das Rattern des Fahrstuhls im Treppenhaus. Mit einem Kling öffneten sich die Türen. Kurz darauf klimperte ein Schlüssel im Schloss. Patrick steckte den Kopf durch den Türspalt und sah sich vorsichtig um, ehe er eintrat.
Evelyn drehte das Licht im Vorraum an. »Du kannst reinkommen, Angsthase, ich bin allein.«
Er schloss die Tür hinter sich. »Du weißt, dass du deinen Job verlierst, falls uns mein Vater erwischt.«
»Der hat im Moment andere Sorgen.«
Patrick küsste sie auf die Wange. Er roch immer dezent nach Aftershave, selbst wenn er den ganzen Tag unterwegs war - eine der vielen Kleinigkeiten, die sie an ihm mochte.
»Wie laufen deine Beschattungsaufträge?«
»Ganz gut. Die eine Frau ist zu Hause bei ihren Kindern, und die andere hat sich eine Pizza geholt und in der Videothek zwei Filme ausgeliehen … Jacob’s Ladder und Nightmare on Elm Street. Die verbringt die Nacht garantiert allein unter der Bettdecke.«
Patrick folgte ihr ins Büro. Er trug dieselbe Kleidung wie am Abend, als sie sich mit ihm im Andante getroffen hatte: eine Jeans und das schwarze, eng geschnittene Hemd. Ein Kugelschreiber klemmte in der Brusttasche. Außerdem hielt er eine Mappe in der Hand. »Das Polizeiprotokoll?«, fragte sie.
»Der vorläufige Stand der Ermittlungen«, korrigierte er sie. »Mein Informant in Berneckers Team hat mir hundertfünfzig Euro dafür abgeknöpft.«
»Die ersetze ich dir.«
»Nicht nötig«, antwortete er. »Du bist mir ein Abendessen schuldig.«
»Candle-Light-Dinner, ich weiß«, seufzte sie. »Aber nur, wenn es die Information wert ist.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Viel haben Bernecker und seine Kollegen zwar nicht rausgefunden, aber es reicht, um die Akte mit dem Vermerk >Unfall< zu schließen.«
»Schieß los.«
Er breitete die Papiere auf ihrem Schreibtisch aus: der Spurensicherungs- und Tatortbericht, die Protokolle der Zeugenaussagen, ein erster gerichtsmedizinischer Befund und jede Menge Skizzen und Fotos. Evelyn drehte die Fotos auf die Rückseite, ohne einen Blick darauf zu werfen. Sie konnte sich vorstellen, wie Holobeck nach einem Sturz aus dem dreiundzwanzigsten Stock aussah.
Patrick beugte sich über die Unterlagen. »Folgendes ist passiert …« Obwohl sie allein waren, flüsterte er. »Um drei Uhr nachmittags steht Holobeck auf dem Balkon. Er hat die beiden Käfige seiner Kanarienvögel, die im Freien auf Deckenhaken hängen, zunächst mit dem Staubsauger gereinigt. Danach balanciert er auf einem Bürosessel mit feststellbaren Rollen. Die Sonne scheint kräftig, es ist windstill. Er säubert das Gitter mit einem Putztuch. Einer der Kanarienvögel muss durch das offene Gitter geschlüpft sein, Holobeck will nach ihm greifen, der defekte Feststellbügel des Stuhls löst sich, der Sessel fängt an zu rollen, und dein Kollege beginnt mit den Armen zu rudern. Er will sich an dem Vogelhaus festklammern, reißt es vom Haken und stürzt mitsamt dem Käfig über die Balkonbrüstung. Als er unten aufschlägt, kracht er mit dem Kopf in das Vogelhaus. Von seinem Gesicht ist nicht mehr …«
»Danke, ich kann es mir vorstellen«, unterbrach Evelyn ihn. Sie tippte sich durch die Menüfunktion ihres Bürotelefons und überprüfte die Uhrzeiten der letzten Gespräche. »Ich habe um sieben vor drei mit Holobeck telefoniert, also kurz bevor der Unfall geschehen ist. Er klang ziemlich gestresst, dann läutete es an seiner Tür. Er öffnete, danach war die Verbindung tot.«
»Holobeck auch«, sagte Patrick.
Wie feinfühlig!
»Wenn das stimmt, was du sagst«, mutmaßte Patrick, »müsste sein Besucher in der Wohnung gewesen sein und gesehen haben, wie es passiert ist.«
»Oder sein Besucher war die Ursache des Unfalls.« Evelyn massierte ihre Schläfen. »Ich muss mit der Polizei reden.«
»Vergiss es.« Patrick kramte eine Mitschrift hervor. »Weder der Portier noch die Bewohner der angrenzenden Apartments haben jemanden gesehen. Außerdem war Holobecks Wohnung abgesperrt.«
Evelyn deutete auf ihr Telefondisplay. »Aber ich kann beweisen, dass ich unmittelbar vor seinem Tod mit ihm gesprochen habe - und es war jemand an der Tür.«
»Handy oder Festnetz?«
»Handy.«
»In der Wohnung wurde kein Handy gefunden«, erwiderte Patrick.
Evelyn überlegte. »Dann hat es der Mörder mitgenommen.«
»Der Mörder? Du ziehst voreilige Schlüsse.
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