Rachesommer
Holobeck. Zuletzt hatte sie es bei dem Telefonat mit ihm bemerkt. Was für ein seltsames Gefühl. Er war fast zehn Jahre lang ihr Mentor und engster Kollege gewesen, und sie hatte ihm all ihre Ängste und Zweifel anvertraut.
»Lynnie, du hast trotzdem eine verdammt gute Menschenkenntnis. Du solltest endlich deine eigene Kanzlei gründen und dich als Strafverteidigerin selbständig machen.«
»Ich bin noch nicht so weit.«
»Blödsinn«, widersprach er. »Du bist zweiunddreißig. Wie lange möchtest du noch warten? Und wem möchtest du hier etwas beweisen? Nach dem Unfall deiner Eltern gibt es niemanden, der…«
»Ich bin noch nicht so weit!«
»Puh, schon gut.« Er hob abwehrend die Hände. »Der Igel fährt seine Stacheln aus.«
Schweigend durchsuchten sie eine Schublade nach der anderen, ohne etwas zu finden.
»Kennst du eigentlich den Unterschied zwischen einem Anwalt und einem Eimer Pferdekacke?«, fragte Patrick schließlich.
»Ja, der Eimer … sehr witzig! Hast du schon was gefunden?«
»Nein. Wonach suchen wir eigentlich?«
Evelyn stöhnte auf. Sie fragte sich, wie Patrick und seine Sekretärin mit der Detektei bloß überleben konnten, so dämlich, wie er sich manchmal anstellte.
Plötzlich schlenderte er auf sie zu und wedelte mit einer Mappe vor ihrer Nase herum. »Suchen wir nach so einem Ding: Gabriele Prange gegen Austrobag GmbH?«
Der Airbag-Fall! Statt Patrick die Mappe aus der Hand zu nehmen, musterte sie ihn von oben bis unten. »Was ist der Unterschied zwischen einem toten Hund auf der Straße und einem toten Privatdetektiv?«
Er sah sie mit großen Augen an. »Keine Ahnung.«
»Vor dem Hund sind Bremsspuren.« Sie nahm ihm die Mappe aus der Hand und sortierte die Unterlagen auf Kragers Schreibtisch auseinander.
»Ganz ehrlich, an dem Witz solltest du noch feilen, aber wenigstens hast du deinen Humor wiedergefunden.«
»Komm, hilf mir. Wir suchen nach der Personenbeschreibung dieser Frau aus dem Cafe.«
Nachdem sie die Hälfte der Papiere durchgesehen hatten, die Evelyn bereits von dem Geschäftsessen mit Holobeck kannte, stießen sie auf die Protokolle einiger Zeugenaussagen. Eine Kellnerin, ein älterer Herr und ein Zeitungsverkäufer hatten unabhängig voneinander gesehen, wie die junge Dame nach dem Kaffeehausbesuch in den Wagen von Stadtrat Prange gestiegen und mit ihm von Bad Reichenhall in Richtung Alpenstraße gefahren war. Es gab kein Phantombild, bloß die Personenbeschreibung der jungen Frau.
»Hochgewachsen, schlank, fast schon zerbrechlich, blasses Gesicht, zwischen achtzehn und zwanzig Jahre«, las Patrick vor. »Sie hatte langes, blondes Haar. Niedlich!«
»Da!« Evelyn rieselte ein Schauer über den Rücken. Endlich hatte sie es gefunden. »Die junge Frau trug ein hellblaues Sommerkleid mit Spaghettiträgern.« Sie flüsterte die beiden letzten Worte beinahe.
»Ist sie das?«, fragte Patrick.
»Entscheide selbst.« Evelyn nahm den Ausdruck des Fotos aus der Seitentasche ihres Blazers und faltete das Papier auseinander. Auf dem vergrößerten Bildausschnitt war ein Mädchen unter der Straßenlaterne zu sehen.
»Heilige Scheiße!«, entfuhr es Patrick. »Das ist ja unheimlich.«
Das Gefühl, das sie seit Tagen quälte, hatte sie also nicht getrogen.
Als ein Schlüssel in der Eingangstür klirrte, fuhr Evelyn hoch. »Ausgerechnet jetzt«, flüsterte sie.
Patrick begann bereits, die Unterlagen in die Mappe zu schieben, während Evelyn zur Tür lief und das Licht in Kragers Büro ausknipste.
»Ich sehe nichts«, zischte Patrick.
»Sei still«, wisperte sie. »Vielleicht ist es nur die Putzfrau, die etwas vergessen hat.«
Evelyn tastete sich an der Wand entlang und begann, die offenen Schubladen möglichst leise zu schließen. Hinter ihr raschelte Patrick mit den Papieren. Plötzlich stockte er.
Im Gang waren Schritte zu hören.
Evelyn hielt den Atem an. Das war nicht die Putzfrau - es waren die Schritte eines großen, schweren Mannes. Und sie näherten sich dem Büro, in dem sie sich befanden …
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Das Licht flackerte auf. Ein Mann im Anzug stand im Türrahmen. Sein Blick wanderte zwischen Evelyn und Patrick hin und her. Blanker Zorn lag darin.
Evelyns Gaumen trocknete aus. »Hallo Vater«, murmelte Patrick.
Zwei Wochen zuvor
20
Sie bahnte sich einen Weg zwischen den Menschen hindurch, spürte die Blicke der Männer auf ihrem Körper, ignorierte das Wispern hinter ihrem Rücken aber. Einige Schritte
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