Rachesommer
erklang.
»Die Abfrage im Standesamt ist durch. Ich habe alle Sterbeurkunden gecheckt«, flüsterte Malte.
Pulaski sah kurz zu Doktor Willhalm, die unschlüssig neben der Tür stand. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, nicht wegzugehen. »Und?«
»In der Psychiatrie Markkleeberg gab es innerhalb der letzten fünf Jahre nur einen einzigen Todesfall. Ein Patient namens Martin Horner, neunzehn Jahre alt. Er starb an Herzversagen. Natürlicher Tod, keine polizeiliche Untersuchung.«
Pulaskis Mund war plötzlich trocken. »Wann war das?«
»Du wirst es nicht glauben … vor drei Tagen.«
»Sie haben es gehört. Die Ermittlungen wurden eingestellt, ich kann Ihnen nicht mehr helfen«, sagte Sonja Willhalm.
Pulaski und die Therapeutin waren die Treppe aus dem Keller hinaufgestiegen und standen nun in der großen Halle vor dem Seitenausgang. Hinter der Glastür lag der Angestelltenparkplatz. Doktor Willhalms Wagen war einer der letzten auf dem Gelände.
Pulaski führte sie am Arm in eine Nische. »Ich habe nur eine Bitte …«, flüsterte er. »Ich brauche Martin Horners Krankenakte.«
Sie schüttelte den Kopf. »Martin ist tot.«
»Eben deshalb.«
Unsicher verzog sie das Gesicht. »Damit verstoße ich gegen die Anweisung meines Vorgesetzten und die ärztliche Schweigepflicht. Falls das rauskommt, bin ich meinen Job los.«
Er dachte an das Telefonat mit seinem Chef, das er abgewürgt hatte, und Makes Abfrage mit seiner Dienstnummer. »Meinen bin ich schon los«, antwortete er. »Ich kann ihn nur behalten, wenn ich diesen Fall neu aufrolle. Und der Schlüssel dazu liegt möglicherweise in Martins Akte.«
Sie blickte unschlüssig durch die Scheibe zu ihrem Wagen.
»Denken Sie an Natascha«, drängte er.
»Mein Exmann hat den Fall abgeschlossen.«
»Ihr Exmann irrt sich«, konterte er. »Auf einem der Überwachungsvideos existiert eine Aufnahme des Mörders, die in wenigen Stunden gelöscht wird. Damit ich an das Band rankomme, muss das Verfahren wieder aufgenommen werden.«
»Wie soll ich Ihnen die Akte zukommen lassen?«
»Ich bin noch etwa zehn Minuten im Besprechungszimmer, um meine Unterlagen zusammenzupacken.«
Sie nickte. »Ich schiebe eine Kopie unter dem Türspalt durch.«
Walter Pulaski wartete fünfzehn Minuten in dem Besprechungsraum. Der Tisch war leer, sein Koffer stand neben dem Stuhl. In der Zigarettenpackung befand sich nur noch ein einziger Glimmstängel. Er hatte heute eineinhalb Schachteln geraucht. Das Rauchen würde ihn noch ins Grab bringen.
Nach weiteren fünf Minuten war auch die letzte Zigarette nur noch ein ausgedrückter Stummel im Aschenbecher. Mittlerweile hatte er mindestens hundertmal auf .die Uhr gesehen. Sonja Willhalm würde nicht mehr auftauchen. Möglicherweise kam sie nicht an die Information heran. Wahrscheinlicher jedoch war, dass sie kalte Füße bekommen hatte. Mit fünfundvierzig Jahren einen Job zu verlieren war kein Honiglecken. Mit etwas Pech konnte er sich morgen früh seine eigene Suspendierung bei Fux abholen.
Endlich hörte er Schritte im Gang. Die Person verharrte vor der Tür. Pulaski erhob sich.
Jemand drückte die Klinke hinunter, und die Tür ging auf, aber nicht Willhalm trat ins Zimmer. »Sind Sie fertig?« Direktor Wolf sah sich um und zog arrogant die Augenbrauen hoch.
Das war’s dann wohl, dachte Pulaski. Er nahm seinen Koffer und warf sich das Sakko über die Schulter. »Fertig.«
»Ich begleite Sie raus.«
Natürlich. Auf dem Weg nach draußen könnte er ja noch etwas anstellen.
Während Pulaski dem Direktor durch die Halle zum Ausgang folgte, warf er einen Blick durch die Glastür des Seitenausgangs. Der Parkplatz war leer. Willhalms Wagen fehlte. Das Warten war umsonst gewesen. Er hatte sich in der Therapeutin getäuscht… Dabei hätte er die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass sie ihm helfen würde.
Draußen verabschiedete sich Wolf mit knappen Worten. Zwischen den Zeilen glaubte Pulaski so etwas mitschwingen zu hören wie Und-Sie-möchte-ich-hier-nie-wiedersehen. Kein Problem! Der Zutritt zur Anstalt würde ihm ohne triftigen Grund für immer verwehrt bleiben.
»Gute Nacht.«
Pulaski antwortete nicht. Hinter ihm knallte die Tür zu. Er ging zu seinem Wagen. Im Mondschein sah er einen Zettel an der Windschutzscheibe. Durch die Nachtfeuchtigkeit war das Papier etwas aufgeweicht. Er zog es vorsichtig hinter dem Scheibenwischerblatt hervor, setzte sich in den Wagen und betrachtete das Dokument im gelben Schein der
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