Rachesommer
nicht. Scheinbar wusste die Sekretärin Bescheid. Der Pitbull hatte gerufen!
Evelyn verließ ihr Büro und ging zum anderen Ende der Kanzlei. Als sie vor Kragers Tür stand, überprüfte sie ihre Bluse, den Blazer und zog den Rock straff. Sie hatte das lange blonde Haar zu einem Zopf geflochten - wie sie es immer tat, wenn sie in eine Verhandlung ging. Und ein Prozess würde es werden!
Sie klopfte an und trat ein. Krager lehnte in seinem Stuhl und führte ein Telefonat. Wie üblich trug er einen Anzug von Armani. Sie hatte ihn noch nie in einer anderen Kleidung gesehen. Vermutlich hatte er den Anzug auch sonntags in seinem Apartment an.
Sein Anblick erinnerte sie an Patrick. Vor allem das kantige Kinn und die durchdringenden blauen Augen. Der Sohn war dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Doch bis auf die unmissverständliche Art, mit einer Frau zu flirten, konnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Darauf würde Krager sicherlich noch zu sprechen kommen.
Als sie vor ihm stand, legte er auf. »Setzen Sie sich, Evelyn.«
Sie nahm Platz, überschlug aber nicht wie sonst die Beine, sondern blieb an der Stuhlkante sitzen.
Krager lehnte sich entspannt zurück. »Evelyn, wie lange kennen wir uns schon?«
Eine rhetorische Frage. Sie antwortete nicht darauf.
»Als Sie noch auf dem Juridicum studierten, haben Sie in den Sommermonaten als Ferialpraktikantin bei uns gearbeitet. Schon damals waren Sie ein hübsches und intelligentes Mädchen, und ich wusste, dass Sie es weit bringen würden. Trotz des tragischen Unfalls Ihrer Eltern haben Sie die Uni mit dreiundzwanzig Jahren als eine der besten Ihres Jahrgangs abgeschlossen und sich fünf Jahre lang während Ihrer Ausbildung als Konzipientin nach oben gearbeitet. Holobeck ist immer stolz auf Sie gewesen - bis zuletzt.«
Er warf einen kurzen Blick zur Seite. Auf dem Schreibtisch lag Peter Holobecks Totenzettel, daneben vermutlich der erste handschriftliche Entwurf für den Nachruf.
»Mit achtundzwanzig die Anwaltsprüfung«, fuhr Krager fort. »Die Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte, und seither arbeiten Sie als angestellte Anwältin für mich.« Er nahm eine Zigarre aus der Schatulle, drehte sie zwischen den Fingern und roch daran, ohne sie anzuzünden. Er würde sich nie erlauben, in ihrer Gegenwart zu rauchen. Eine der Eigenschaften, die sie an ihm schätzte.
»Sie wissen, ich wollte Sie schon vor einem Jahr als Juniorpartnerin für diese Kanzlei haben.«
Wie hätte sie das vergessen können? Krager und Holobeck hatten sie zum Mittagessen eingeladen und ihr die Partnerschaft angeboten. Sie hatte abgelehnt, und Krager hatte die peinliche Situation mit einem Scherz überspielen müssen. Bei einem Gespräch unter vier Augen hatte sie ihm anschließend gestanden, dass sie sich mit dem Gedanken trage, dem Zivilrecht den Rücken zu kehren und Strafverteidigerin zu werden.
Krager richtete sich auf und stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch. Der Tonfall seiner Stimme änderte sich. Er wurde sachlich und verlor jede Spur von Charme und Herzlichkeit. »Gestern Abend sind Sie in mein Büro eingebrochen, haben es durchwühlt und sich unbefugten Zutritt zu Akten verschafft, obwohl ich Ihnen wenige Stunden zuvor ausdrücklich klargemacht habe, dass die Mandantin darum gebeten hat, die Umstände des Todes ihres Mannes vertraulich zu behandeln.«
Der Airbag-Fall!
»Ich …«
Er würgte ihre Worte mit einer raschen Handbewegung ab. »Aber damit nicht genug. Wie ich feststellen musste, hat mein Sohn Ihnen illegal beschaffte Kripounterlagen über den Tod meines Partners und sogar Fotos des Leichnams besorgt.«
Zutiefst beschämt schloss sie für einen Moment die Augen. »Ichhabe …«
»Evelyn«, unterbrach er sie. »Es ist mir gleichgültig, ob Sie sich außerhalb der Arbeitszeit mit meinem Sohn treffen oder nicht. Sie wissen, was ich von ihm halte, aber Sie müssen selbst entscheiden, ob Sie den privaten Umgang mit einem schmierigen Detektiv, der es mit den Gesetzen nicht sehr genau nimmt, pflegen oder nicht.«
Kragers Stimme wurde leiser. »Er hätte es als Anwalt zu etwas bringen können«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Evelyn. Dann pochte er mit dem Finger auf den Schreibtisch. »Aber in diesem Beruf hat ein derartiges Verhalten nichts verloren! Evelyn, ich weiß genauso gut wie Sie, dass unser Job nicht immer fair ist. Wahrheit ist Auslegungssache, und vor Gericht bekommt der Mandant zwar ein Urteil, aber nicht immer Gerechtigkeit. Doch
Weitere Kostenlose Bücher