Rachesommer
Zeit der Welt. Ab jetzt bin ich rund um die Uhr für dich da.«
War er plötzlich verrückt geworden? »Und deine Beschattungsaufträge? Die Pizzadame mit den Horrorfilmen?«
»Musste ich an einen Kollegen abgeben.«
Sie wurde stutzig. »Du hast doch noch nie einen Auftrag abgegeben.«
»Diesmal schon … Was soll’s, du erfährst es sowieso.« Er atmete tief durch. »Nachdem du gestern Nacht gegangen warst, hatte ich noch einen heftigen Streit mit meinem alten Herrn. Er, der tyrannische Vater - ich, der missratene Sohn. Wir sprachen über Mutter, und dann kam alles raus. Die leidige Beziehungskiste wieder einmal. Hat er nichts davon erwähnt?«
»Kein Wort.«
»Typisch! Jedenfalls stürzte ich aus seinem Büro, mit Blutdruck dreihundert, rannte auf die Straße, sah das Auto nicht kommen und wurde von der Stoßstange erfasst.«
Evelyn fuhr hoch. »Bist du verletzt?«
»Verletzt? Ich wäre fast überfahren worden!«
Na klar! Wie immer musste er übertreiben. Sie sank in den Stuhl zurück. »Und was hast du?«
»Eine leichte Gehirnerschütterung, nichts Dramatisches. Aber ich habe mir das Bein verdreht. Die Seitenbänder im linken Knie sind gerissen. Innerhalb einer Stunde wurde das Knie so dick wie ein Medizinball. Im Krankenhaus haben sie mir mit einer Nadel das Blut aus dem Bluterguss entfernt.«
»Du übertreibst, oder?«
»Kein bisschen!« Er klang todernst. »Nach dem Röntgen und einer Computertomographie haben sie mir einen Spaltgips vom Knöchel bis zur Hüfte verpasst. Um vier Uhr morgens war ich zu Hause. Seitdem versuche ich, mit Krücken zu laufen.«
»Das tut mir leid.« Irgendwie war es auch ihre Schuld. Immerhin hatte sie ihn in diese Situation gebracht. »Brauchst du etwas? Soll ich dich besuchen?«
»Nicht nötig. Ich nehme schmerzstillende Mittel und habe alles im Griff. Jedenfalls kann ich mir die Beschattungsaufträge abschminken und habe nun mehr Zeit, als mir lieb ist. Willst du nun hören, was ich rausgefunden habe?«
Sie sah ihn in seinem Büro förmlich vor sich - das Gipsbein hochgelagert, neben sich den PC und das Telefon, während er auf seinen Block kritzelte und seine Sekretärin nervte, die ihm ständig frischen Kaffee bringen musste. »Schieß los.«
»Also, der Kinderarzt und der Stadtrat haben gar kein so braves und vorbildliches Leben geführt.«
»Kannten sich die beiden?«
»Das nicht gerade, aber sie hatten eine ähnliche Vergangenheit.«
Sie hatten auch ein ziemlich ähnliches Ende gefunden, dachte Evelyn. Der Kinderarzt war in einem offenen Kanalschacht ertrunken, dem Stadtrat war von dem sich öffnenden Airbag ein Radio ins Gesicht geschleudert worden. Beides keine hübsche Art, um abzudanken.
»Ich bin auf drei interessante Punkte gestoßen …« Patrick raschelte mit einigen Papieren. »Erstens: Rudolf Kieslinger und Heinz Prange hatten mehrere Anzeigen wegen Kinderpornografie im Internet, die aber nie verhandelt wurden. Angeblich war die Beweislage zu dünn, und der Staatsanwalt stellte das Strafverfahren jeweils nach einigen Wochen ein.«
Kinderpornografie! Ihre Kehle verengte sich. Die Sache nahm eine Wendung, die ihr überhaupt nicht behagte.
»Zweitens: Den Kontoauszügen der beiden zufolge, an die ich rangekommen bin - frag bitte nicht, wie -, zahlten sie seit 1998 einmal im Quartal eine Summe von tausend Euro auf ein anonymes Konto. Und diese Beträge waren garantiert keine freiwilligen Spenden an Kinderheime.«
»Dubiose Mitgliedsbeiträge?«
»Möglich. Vielleicht wurden sie auch erpresst. Doch das Beste kommt noch: Das anonyme Konto ist dasselbe. Leider lässt sich nicht herausfinden, wem es gehört.«
Evelyn wurde heiß im Gesicht. »Ich wusste, dass außer dem Mädchen im Spaghettiträgerkleid eine weitere Verbindung zwischen den beiden existiert!«
»Ich bin noch nicht fertig«, unterbrach Patrick sie.
Instinktiv nahm Evelyn die Beine vom Tisch, als sie Schritte im Gang hörte.
»Der dritte Punkt ist der interessanteste: Ich habe recherchiert, wo Kieslinger und Prange im Sommer ’98 waren, zu dem Zeitpunkt, als die Zahlungen begannen …«
Ein Schatten baute sich hinter der Milchglastür auf.
»… und bin auf eine weitere Gemeinsamkeit gestoßen.«
Es klopfte an der Tür, und Krager trat ein.
Evelyn nahm den Hörer vom Ohr.
Krager legte eine Visitenkarte auf den Schreibtisch. »Hier ist die Telefonnummer von Matthias Windbichler. Der Anwalt der Klägerin ist übrigens wieder einmal Doktor Jordan. Das Vergnügen hatten Sie ja
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