Rachesommer
sie die Schultern. »Ein vergewaltigender Vater, eine sadistische Mutter, ein Pornoring? Wir wissen es nicht. Jedenfalls müssen es so schreckliche Dinge außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung gewesen sein, dass andere Kinder daran gestorben wären. Manche wiederum, wie Martin oder Natascha, haben die Fähigkeit, die unangenehmen Erlebnisse weit in ihr Inneres zu drängen, als wären die Vorfälle nie passiert. Die Gewalt reißt ihre Persönlichkeit buchstäblich in Stücke, ihr Geist beamt sich sozusagen weg.«
Pulaski schnippte mit den Fingern. »Und das passiert einfach so?«
»Natürlich nicht. Missbrauchte Kinder verdrängen das Erlebte zunächst ins Unterbewusstsein, bei weiteren Vorfällen distanzieren sie sich und nehmen den Missbrauch aus einer Art Zuschauerperspektive wahr. Nimmt die Gewalt jedoch kein Ende, zersplittert die Seele in einer letzten Stufe. Vier, fünf oder mehr Teilidentitäten entstehen, die sich abspalten. Diese Personen werden richtiggehend dafür geboren, um die Gewalt an Stelle des Opfers zu erdulden, weil sie besser damit umgehen können.«
»Klingt nach einer Überlebensstrategie.« Pulaski warf die Folie und den leeren Becher in einen Mülleimer. »Ist es normal, dass die Jugendlichen zehn Jahre oder länger in der Psychiatrie bleiben müssen?«
»Nicht nur bleiben«, korrigierte Willhalm ihn. »Einige von ihnen leben in der Anstalt. Offiziell heißen sie nicht Patienten oder Klienten, sondern Bewohner. Sie sind nicht fähig, in eine von Sozialarbeitern betreute Wohngemeinschaft entlassen zu werden.«
»Was würde im Wohnheim passieren?«
»Einige Bewohner sind aggressiv, andere leiden unter permanenten Angstzuständen, Allergien, Zwängen, Depressionen, Ess- und Schlafstörungen, Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-Beschwerden oder dem Borderline-Syndrom. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen …« Sie zuckte mit den Achseln. »Manche sind magersüchtig wie Natascha und tragen Narben zahlreicher Selbstmordversuche. Sie bekommen ihr Leben nicht auf die Reihe, weil sie immer wieder vergessen, was vor wenigen Stunden, Tagen oder Wochen geschehen ist. Weil die Qualen einer anderen Person passiert sind und sie sich nicht daran erinnern, können sie nicht daraus lernen … Sie sehen mich so fragend an.«
»Das ist schwer zu begreifen.«
Sie breitete die Arme aus. »Stellen Sie sich einen Menschen mit Identitätsstörung wie eine Apartmentwohnung mit zehn oder zwölf Zimmern vor. Jede Teilpersönlichkeit glaubt, die Wohnung bestünde nur aus einem Zimmer. Sie kennt die anderen Räume gar nicht. Sie weiß nicht einmal, dass sie existieren.«
Ein Schauer rieselte Pulaski über den Nacken. »Das ist unheimlich.«
Endlich erreichten sie das Grab, aus dem die Schürfgeräusche stammten.
Zwei Männer mit Holzfällerhemden und gelben Arbeitshosen standen in der Grube und hantierten mit Seilen, die sie unter den Sarg schoben.
»Gestern zubuddeln - heute wieder ausbuddeln«, murrte der eine.
»Die großen Herren wissen einfach nicht, was sie wollen«, maulte der andere. »Ruhe! Arbeiten Sie weiter!«
Die Stimme gehörte zu einem hochgewachsenen jungen Mann im dunklen Anzug, der im Schatten der Bäume stand und den Totengräbern bei der Arbeit zusah. Als er Pulaski und Willhalm bemerkte, löste er sich aus seiner starren Haltung und kam auf sie zu.
»Verflucht«, zischte Pulaski der Therapeutin zu. »Den kenne ich.«
»Jemand, den Sie mal eingebuchtet haben?«, flüsterte sie. »Schön war’s«, antwortete Pulaski. »Ab jetzt ist die Sache für uns gelaufen.« In diesem Augenblick läutete sein Handy. Es war Malte. »Pulaski, wo treibst du dich herum?«
»Auf dem Friedhof in Markkleeberg.«
»Schaufelst du dir dein eigenes Grab?« Malte gackerte, aber im nächsten Moment wurde er wieder ernst. »Du solltest schleunigst herkommen. Die haben die Ermittlungen übernommen und sich die Beweismittel unter den Nagel gerissen.«
»Das sehe ich gerade.« Die Frage, wen Malte mit die meinte, hatte sich erübrigt. Pulaski steckte das Handy weg.
Im nächsten Moment stand der Mann im dunklen Anzug vor ihnen. Stahlrahmenbrille, Rolex, steifer Hemdkragen und Seidenkrawatte mit silberner Nadel und Kettchen.
»Landeskriminalamt Sachsen«, sagte der Junge, der dem Alter nach Pulaskis Sohn hätte sein können. »Ich hoffe, Sie können sich ausweisen.«
24
Pulaski wusste, dass der Knabe Klaus Winteregger hieß. Er war der jüngste Kommissar des Landeskriminalamts in Dresden.
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