Rachesommer
lassen Sie sich um Himmels willen von meinem Sohn nicht in illegale Machenschaften hineinziehen. Schließlich sind Sie eine vernünftige, junge Frau.«
Vernünftig! Eben deshalb sah sie ja die Zusammenhänge, vor denen andere die Augen verschlossen. »Ich …«
»Ich bin noch nicht fertig!« Krager beugte sich weiter nach vorne und senkte die Stimme. »Normalerweise müsste ich den Vorfall der Rechtsanwaltskammer melden. Bei einem Disziplinarverfahren könnte Ihnen die Kammer untersagen, weiterhin als Anwältin zu arbeiten. Ihr Traum vom Strafrecht wäre damit für immer geplatzt.« Er lehnte sich zurück. Sein Stuhl knarrte. »Aber ich bin davon überzeugt, dass so etwas nie wieder vorkommt, darum sehe ich von einer Meldung ab.«
Was für eine Standpauke! Evelyn schwieg. Normalerweise war das nicht ihre Art, doch diesmal würde sie Krager nicht noch einmal ins Wort fallen. Nachdem er eine Weile lang nichts gesagt hatte, forderte er sie mit einer Geste auf zu reden.
Statt sich bei ihm zu bedanken, weil er die Sache unter den Tisch fallen ließ, hatte sie das überwältigende Bedürfnis, ihm die Zusammenhänge zu erklären. Nur wusste sie nicht, wie sie beginnen sollte, da ihr so viele Gedanken durch den Kopf schossen. Das Foto des Mädchens im Spaghettiträgerkleid, die Beschreibung der Frau in dem Cafe in Bad Reichenhall und die beiden Unfälle, die womöglich keine waren. Das merkwürdige Telefonat mit Holobeck und schließlich sein mysteriöser Tod.
Sie biss sich auf die Lippe. »Wollen Sie nicht wissen, wonach ich in Ihrem Büro gesucht habe?«
»Wollen Sie nicht wissen, weshalb ich nachts ins Büro gekommen bin?«, konterte er.
»Natürlich.« Sie hatte sich deswegen bereits das Hirn zermartert.
»Auf dem Nachhausweg habe ich von der Straße aus zufällig Licht hinter den Vorhängen meines Bürofensters gesehen. Zunächst dachte ich an Einbrecher, doch der stille Alarm auf meinem Handy war nicht losgegangen, also beschloss ich, der Sache nachzugehen.« Er atmete tief durch. »Wenn ich die Wahl gehabt hätte, wären mir Einbrecher lieber gewesen.«
»Wollen Sie nun wissen, wonach ich gesucht habe?«
»Nein.«
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
Trotzdem musste sie mit ihm darüber reden. »Sowohl an dem Ort, wo der Kinderarzt Rudolf Kieslinger ums Leben gekommen ist, als auch in der Nähe des Ortes, wo Stadtrat Heinz Prange …«
»Evelyn, wollen Sie das nicht verstehen? Es interessiert mich nicht! Die beiden Verfahren sind abgeschlossen. Lernen Sie, Abstand von erledigten Dingen zu nehmen! Holobeck hat den Prozess gegen die Austrobag GmbH verloren, und Sie haben erreicht, dass die Witwe des Kinderarztes die Klage zurückgezogen hat. Beide Fälle sind Geschichte.«
»Aber Holobeck …«
»Aber Holobeck!« Krager wurde laut. »Er ist bei einem schrecklichen Unfall zu Tode gekommen! Die Kripo hat die ganze Nacht Zeugen einvernommen. Die Wohnung war versperrt. Der Idiot hat seinen Vogelkäfig auf einem Drehstuhl gesäubert und ist über die Balkonbrüstung gestürzt. Tragisch genug!«
Er griff in die Schublade und legte eine Mappe auf den Schreibtisch. »Sie sollten einen neuen Fall übernehmen, damit Sie auf andere Gedanken kommen. Ich sagte Ihnen ja bereits gestern, dass ich an einer lukrativen Sache dran bin, die ich Ihnen übertragen möchte.«
Oh Gott, Kragers lukrative Fälle. Was war es diesmal?
Krager schob die Mappe über den Tisch. Sie warf einen Blick auf den Aktendeckel. Angelika Bäumler gegen Matthias Windbichler. Eine Privatklage!
Sie kannte den zweiten Namen. Diplomkaufmann Windbichler war Direktor einer Bank, die sie vertraten.
»Ich weiß, die Wirtschaftsfälle unserer Kanzlei sind nicht unbedingt Ihr Steckenpferd, doch diesmal geht es um etwas anderes. Direktor Windbichler ist einer unserer Klienten. Er bat mich, den Fall seines Sohnes Matthias zu übernehmen.« Kragers Stimme wurde wieder sachlich. Er konnte innerhalb weniger Sekunden von einem emotionalen Gespräch zu einem geschäftlichen Thema umschwenken, ohne auch nur einen Gedanken an die vorherige hitzige Diskussion zu verschwenden. Evelyn gelang das nicht. In ihrem Kopf turnten die Gedanken immer noch auf und ab.
Daher hörte sie auch nur mit einem Ohr zu, als Krager erzählte, dass Matthias und seine Freundin Angelika im Haus seiner Eltern einen heftigen Streit hatten. Das Mädchen behauptete, es sei zu Handgreiflichkeiten gekommen, und ihr Freund habe sie geschlagen. Er wiederum beteuerte, sie sei von
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