Rachesommer
selbst gegen den Tisch mit der Glasplatte gestürzt und habe sich die anderen Verletzungen Tage später selbst zugefügt. Es gab keine Anzeige bei der Polizei, aber zwei Wochen nach dem Vorfall klagte das Mädchen auf Schmerzensgeld.
Widerwillig schlug Evelyn den Aktendeckel auf. Sie zuckte zurück. Ein Farbfoto aus dem Krankenhaus lag auf dem Stapel. Instinktiv hielt sie den Atem an. Das Mädchen hatte Schürfwunden im Gesicht, eine blutige Lippe und blau und grün schillernde Blutergüsse unter dem geschwollenen Auge. Diese Wunden sollte sie sich selbst zugefügt haben?
Krager rollte die Zigarre zwischen den Fingern. »Boxen Sie den Jungen aus der Sache raus.«
Aus der Sache rausboxen?
Sie starrte auf die Schrammen des wahrscheinlich gerade mal siebzehnjährigen Mädchens. So sah niemand aus, der sich selbst verletzte!
Die Blutergüsse, die blutige Lippe, die Kratz- und Schürfspuren. Wahrscheinlich hatte sie die Augen zugepresst und die Arme hochgerissen, um die Schläge abzuwehren …
… aber trotzdem die Schmerzen im Handgelenk gespürt, als ihr die Arme auf den Rücken gedreht wurden. Die Seile spannten sich immer straffer um ihre Gelenke und schnitten so tief ein, bis die Finger taub wurden. Sie spürte die Schläge auf den Hinterkopf und den Jutesack, der sich über ihren Kopf legte …
Evelyn schnappte nach Luft. Ihr Herz raste. Sie wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und bemerkte erst jetzt, dass auch ihre zitternden Finger eiskalt waren. »Das kann ich nicht«, flüsterte sie.
Krager stellte ihr ein Glas Wasser hin, aber sie ignorierte es. »Ich weiß, was Sie empfinden, Evelyn.« Er schlug den Aktendeckel zu. »Aber wie wollen Sie Strafverteidigerin werden und mutmaßliche Kriminelle vor Gericht vertreten, wenn Sie noch an Ihrer eigenen Vergangenheit zu arbeiten haben?«
Verteidiger konnten sich ihre Fälle aussuchen, antwortete sie in Gedanken. Sie hatte Prinzipien und würde niemals Vergewaltiger oder Kinderschänder vor Gericht vertreten.
Krager betrachtete sie mit einer bedauernden Miene. »Ich wiederhole es nur ungern, aber lernen Sie endlich, mit Ihrer Vergangenheit abzuschließen!«
Abschließen? Wie konnte sie das? Sie träumte fast jede Nacht von dem Mann, der ihr das angetan hatte, als sie zehn gewesen war. Es war nicht abgeschlossen - noch lange nicht!
26
Evelyn bekam Magenkrämpfe, als sie in ihrem Büro saß, die Akte durchblätterte und das Protokoll des behandelnden Arztes las. Innerlich sträubte sie sich so sehr gegen den Fall, dass ihr tatsächlich schlecht wurde.
Hatte Krager am Ende doch Recht? Musste sie ihre Vergangenheit bewältigen? Aber wie? Der Mann hatte nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihrer Familie zerstört. Wieder ertappte sie sich dabei, dass ihre Gedanken um die Vergangenheit kreisten …
…zu der Jagdhütte im Wald. Die endlos lange Treppe in den Keller hinunter. Der dunkle Raum mit dem verschmierten Oberlicht, der Geruch der feuchten Wände, das Seil, der Eisenring auf dem Boden … und das Wimmern aus dem Nebenraum.
Das Klingeln des Telefons riss sie aus dem Grübeln. Sie hob ab.
»Hallo, Spitzmausigel. Was ist der Unterschied zwischen einem Anwalt und einem Hai?«
Sie lachte erleichtert auf.
Am anderen Ende der Leitung murmelte Patrick verwirrt: »Aber ich habe dir die Pointe doch noch gar nicht verraten.«
»Brauchst du nicht.« Sie lachte wieder. »Es tut nur gut, deine Stimme zu hören, weil…« Sie verstummte, als sie Stimmen im Gang hörte.
»Einen Moment.« Evelyn stand auf, um die Tür ihres Büros zu schließen. Es musste nicht jeder in der Kanzlei erfahren, worüber sie sprachen.
Sie ließ sich auf den Stuhl fallen, schlüpfte aus ihren Schuhen und legte die Beine auf den Tisch. Dann erzählte sie ihm, wie sein Vater ihr die Leviten gelesen hatte, dass ihn die Parallelen im Airbag- und im Kanaldeckel-Fall nicht im Geringsten interessierten und welchen neuen Prozess sie übernehmen sollte.
Nachdem sie sich eine gute Viertelstunde den Frust von der Seele geredet hatte, ohne dass Patrick sie auch nur ein einziges Mal unterbrach, machte sie eine kurze Pause. »Weshalb rufst du eigentlich an?«
»Habe ich vergessen, ist schon so lange her.«
Was für ein alberner Kerl! Sie musste schmunzeln.
Plötzlich wurde er ernst. »Ich habe ein wenig im Leben von Rudolf Kieslinger und Heinz Prange rumgestöbert…«
»Ich dachte, du hättest keine Zeit?«, unterbrach sie ihn.
»Spitzmausigel«, seufzte er. »Ich habe alle
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