Rachesommer
Abwesenheitsnotiz in ihrem E-Mail-Account hinterlegt hatte - bis Freitag im Urlaub -, war sie wütend nach Hause gefahren.
Bereits vom Auto aus hatte sie Patrick angerufen, um ihm zu erzählen, dass Krager sie für den Rest der Woche vom Dienst freigestellt hatte. Natürlich hatte Patrick kein gutes Haar an seinem Vater gelassen. Er wollte mit dem Taxi sofort zu ihr fahren und stand eine Stunde später tatsächlich mit Krücken vor ihrer Tür - in Begleitung des Taxifahrers, der eine Sektflasche, einen Rosenstrauß und zwei Pizzakartons im Arm hielt. Nach einem kräftigen Trinkgeld war er grinsend verschwunden. Der hatte bestimmt gedacht, dass eine Versöhnungsfeier oder ein romantischer Abend folgen würden. Evelyn hatte keinen Appetit, schon gar nicht auf lauwarme Pizza, aber so war Patrick nun mal. Nicht davon abzubringen, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Mittlerweile war es Abend, im Wohnzimmer brannten einige Kerzen, und aus der Stereoanlage klangen die Songs von Enya. Shepherd Moons. Patrick hatte darauf bestanden, alles so zu arrangieren, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Sie wusste, welche Gedanken er verfolgte - und darauf konnte sie gern verzichten, ob mit oder ohne Gips. Zumindest im Moment.
»Was ist nun mit Punkt drei?«, fragte sie, während sie mit einem Tablett mit den Pizzen und den Sektgläsern ins Wohnzimmer ging.
»Einen Moment noch, Urlauberin!« Patrick versuchte, sich aufzurichten, während Bonnie mit der Schnauze gegen sein Gesicht stupste.
Evelyn legte ihm seinen Teller auf den Schoß und reichte ihm das Besteck.
Rasch schnitt er ein Stück von der Pizza ab. »Mir dröhnt zwar immer noch der Schädel, aber ich habe einen Mordshunger«, murmelte er mit vollem Mund.
»Nicht zu übersehen.«
Er grinste. »Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, geht der Prophet eben zum Berg.«
Wieder eine Anspielung auf das Candle-Light-Dinner, das sie ihm bisher verwehrt hatte. Ob es klug gewesen war, das Dinner in ihre Wohnung zu verlegen?
Evelyn stellte ihren Teller beiseite, und Bonnie und Clyde stürzten sich auf den Schinken.
»Da hat aber jemand mächtig Hunger.« Patrick griff nach dem Sektglas.
Sie setzte sich im Schneidersitz neben ihn und prostete ihm zu. »Ich bin ganz Ohr.«
»Entsprechend den Kontoauszügen begannen Kieslingers und Pranges Zahlungen auf das anonyme Konto vor exakt zehn Jahren«, sagte Patrick kauend. »Ich weiß nur, dass es sich um ein Konto bei der Hamburger Volksbank handelt. Im Sommer 1998, einige Monate vor der ersten Zahlung, flog Stadtrat Prange außerdienstlich nach Hamburg-Fuhlsbüttel und …«
»Woher weißt du das?«, unterbrach Evelyn ihn. »Keine Fluglinie bewahrt ihre Passagierlisten zehn Jahre lang auf.«
»Richtig, Watson!« Patrick grinste. »Prange nahm sich beim Flughafen am Sixt-Stand einen Leihwagen und wurde auf dem Weg nach Bremerhaven prompt mit hundertachtzig km/h vom Radar geblitzt. Bei der Rückgabe des Wagens war noch dazu eine Delle im vorderen Kotflügel. Es gab nicht nur eine saftige Anzeige wegen Fahrerflucht und zu schnellen Fahrens, sondern auch einen Versicherungsfall. Schließlich war der Führerschein für ein paar Monate weg.« Patrick machte eine Pause. »Jedenfalls sieht es so aus, als hätte er es ziemlich eilig gehabt, weil der Flieger womöglich verspätet gelandet war.«
Evelyn war beeindruckt, obwohl sie das vor Patrick nie zugeben würde. »Und weiter?« Sie nippte am Sekt.
Patrick schob sich ein Pizzastück in den Mund. »Kieslinger war zur gleichen Zeit auf einem Ärztekongress in Bremerhaven.«
»Haben sich die beiden dort getroffen?«
Er schüttelte den Kopf. »Prange war Politiker, kein Arzt - er hatte dort nichts verloren. Aber jetzt kommt’s: Auch Kieslinger war nicht da. Die Kongressleitung hatte zwar ein Zimmer für ihn gebucht, doch er tauchte über eine Woche lang weder in seinem Zimmer noch bei den Veranstaltungen auf.«
»Wo war er?«
»Das ist der springende Punkt.« Patrick beugte sich vor. »Oliven?«
»Nein, weiter!«
»Um das herauszufinden, habe ich mich heute Vormittag mit dem Taxi zu Kieslingers Witwe kutschieren lassen.«
»Was?« Evelyn fuhr hoch. »Statt dich auszukurieren, hast du mit dieser alten Schachtel gesprochen?«
Ihr war das Bild der Frau mit den aufgedonnerten Haaren und dem viel zu dick aufgetragenen Lippenstift auf den falschen Zähnen noch lebhaft in Erinnerung. »Warum spricht die mit so einem Kerl wie dir?«
»So einem Kerl wie mir?«, echote Patrick.
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