Rachesommer
als seine Untergebenen.
Pulaski schirmte die Augen mit der Hand vor der Nachmittagssonne ab. Er ging mit seinem Koffer zum Wagen, der vor der Fußgängerzone parkte. Es blieb noch etwas Zeit, bevor er zum Revier zurückkehren musste. Eigentlich hätte er jetzt„wie schon so oft, an den Läden vorbeispazieren, mit seiner Tochter telefonieren oder in der Nikolaistraße einige Lebensmittel für das Abendessen kaufen können. Er hätte sich auch in einer Eisdiele kurz mit Jasmin treffen können, um die letzten Sommertage auszunutzen. Die Schule hatte gerade erst begonnen, und noch langweilte sich seine Tochter zu Tode. Seit Karin vor fünf Jahren nicht mehr aus dem Krankenhaus heimgekommen war, hing die Kleine besonders an ihm. Sobald er während der Dienstzeit in ihrer Nähe war und ihm einige Minuten blieben, rief er sie an. Dann fuhr sie mit ihrem mittlerweile viel zu kleinen Treckingrad in die Innenstadt. Vielleicht tat sie das aber auch nur, weil sie dachte, er wäre einsam. Wie auch immer - diesmal hatte er keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Er musste etwas anderes erledigen.
Pulaski lief zu seinem Wagen, wuchtete den Koffer auf den Rücksitz, nahm das Kriposchild von der Armaturenablage und ließ sich hinter das Lenkrad fallen. Er steckte sich eine Zigarette an und hob den gewaltigen Papierstoß, den Malte im Revier für ihn kopiert hatte, vom Beifahrersitz auf seinen Schoß. Siebzig Patientenakten! Alle aus der Psychiatrie Markkleeberg. Er hatte die Unterlagen zwar gestern Abend im Besprechungsraum der Anstalt schon durchgelesen, doch jetzt suchte er nach etwas anderem: nach Parallelen.
Gab es unter den Patienten ein weiteres Waisenkind, das in seiner Kindheit sexuell missbraucht, im Klinikum Bremerhaven erstbehandelt und von dort in die Psychiatrie Markkleeberg überwiesen worden war? Und hatte sich das alles vor zehn Jahren zugetragen?
Nach einer halben Stunde schob er das letzte Aktenblatt zur Seite. Fehlanzeige! Zwar war er auf Fälle gestoßen, bei denen das eine oder das andere geschehen war. Doch bei keiner Akte trafen alle Eckdaten zu. Nur bei Martin und Natascha. Also doch ein Zufall? Er wollte nicht daran glauben. Da war dieses Bauchgefühl, das ihn bisher noch selten getrogen hatte. Die Autopsie von Martin Horners Leiche würde wohl zeigen, ob der Junge tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben war oder nicht. Aber so lange wollte Pulaski nicht warten. Er spürte förmlich, dass mehr hinter der Fassade dieses Falls steckte. Und er wollte mit einer Abrissbirne dagegenkrachen, damit die Geheimnisse ans Licht kamen.
Seine Gedanken rasten.
Die Todesfälle der beiden Kinder innerhalb weniger Tage.
Herzversagen und Selbstmord.
Der Grauhaarige.
Der gefälschte Abschiedsbrief.
Die Spur nach Bremerhaven.
Er ahnte, dass Goteinik, sein ehemaliger Kollege vom LKA, und der junge Schnösel Winteregger dieser vagen Spur keine Aufmerksamkeit schenken würden. Irgendwie vermutete Pulaski, dass der Grauhaarige wieder zuschlagen würde - oder vielleicht war er davor schon einmal aktiv gewesen? Bei diesem Gedanken richtete Pulaski sich auf.
Aber außer Martin und Natascha gab es keine Todesfälle in der Psychiatrie Markkleeberg. Da erinnerte er sich an etwas, das Sonja Willhalm gestern bei ihrem Spaziergang durch den Park gesagt hatte.
Es gab nur zwei Spezialeinrichtungen für solche Fälle: eine Klinik in Göttingen und Markkleeberg.
Göttingen! Die Stadt lag nur etwa 230 Kilometer von Leipzig entfernt. Drei Stunden mit dem Auto. Eine weitere Spezialanstalt für multiple Persönlichkeiten. Er musste herausfinden, ob es auch dort Todesfälle unter den Patienten gegeben hatte. Falls nicht…
… standen sie vielleicht noch bevor.
28
Evelyn stand in der Küche, nahm die Pizzen aus den Kartons, schob sie auf die Teller und goss Sekt in die Gläser. Aus dem Wohnzimmer klang das Knarren der Sitzgarnitur. Sie blickte kurz um die Ecke.
Patrick streckte sich, so gut es ging, auf der Couch aus, mit einem Bein auf dem Boden und dem Gipsbein auf zwei Kissen. Clyde lag schnurrend und faul wie immer neben seinem Fuß, während Bonnie auf Patrick herumturnte und mit den Vorderpfoten gegen seinen Bauch trat, als suchte sie nach einem bequemen Platz zum Liegen.
»Was ist nun diese dritte interessante Gemeinsamkeit, die du über den Kinderarzt und den Stadtrat herausgefunden hast?«, rief Evelyn ins Wohnzimmer.
Nachdem sie die Aktenberge in ihrem Büro sortiert und eine knappe
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