Rachesommer
starrte auf die Gasse hinunter. Die Straßenbeleuchtung ging soeben an, und die Menschen eilten mit Einkaufstüten heim. Er würde später als geplant nach Hause kommen - wie gestern. Eigentlich hatte Fux Recht. Was kümmerte ihn der Fall? Besser wäre es, er ginge heim, solange die Abende noch mild waren. Er hatte Jasmin versprochen, diese Woche mit ihr und dem Nachbarshund Rex zum Johannapark zu radeln, wo sie Frisbee spielen wollten. Aber heute nicht mehr. Dieser einen Sache wollte er noch auf den Grund gehen. Wenn auch nur, um sein Gewissen zu beruhigen.
Endlich läutete sein Handy. Er drückte die Zigarette aus.
Aber es war keine Nummer aus Dresden, sondern Meikes Anschluss. Sie rief aus der Pathologie an.
»Hallo, mein Großer. Wie geht’s?«
»Noch im Dienst?«, fragte er. »Hast du zu Hause nichts zu tun?«
»Du weißt, Schnippeln ist mein Hobby. Wo steckst du?«
»Auf dem Revier.«
Sie lachte. »Ausgerechnet du beklagst dich über mich, dabei wohnst du selbst schon im Büro.« Sie machte eine Pause. »Wie lange noch?«
»Höchstens eine Viertelstunde«, sagte er. Hoffentlich! »Gehen wir nachher etwas trinken?«
Die Frage war schon lange nicht mehr gekommen, und er hatte gehofft, Meike hätte aufgegeben. Vom Universitätsklinikum zur Dimitroffstraße waren es gerade mal fünfzehn Minuten zu Fuß. Ein Besuch in einer Kneipe nach Dienstschluss bot sich regelrecht an, trotzdem war er erst ein paar Mal mit ihr ausgegangen. Nie allein, immer mit Kollegen. Wenn sie ihn fragte, dachte er meistens an Karin. Bestimmt hätte sie gewollt, dass er sich nach ihrem Tod mit anderen Frauen traf. Schließlich konnte er nicht ewig zu Hause hocken und ihre Fotos anstarren, die er vor seiner Tochter in einer Schublade versteckte. Doch diesmal musste er seltsamerweise nicht an Karin, sondern an Sonja Willhalm denken. Seit er die Therapeutin gestern zum ersten Mal gesehen hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Finger weg von Staatsanwalt Kohlers Exfrau, sagte er sich - trotzdem waren seine Gedanken ständig bei ihr. War das vielleicht auch ein Grund, weshalb er die Ermittlungen im Todesfall von Natascha Sommer und Martin Horner weiterverfolgen wollte? Um den Draht zu ihr nicht abreißen zu lassen? Seine verworrenen Gefühle und zwiespältigen Motive wären ein gefundenes Fressen für einen Psychiater gewesen.
»Nein, heute nicht«, sagte er schließlich. »Ich möchte heim zu meiner Tochter.«
»Ah ja, klar.« Meike schien zu ahnen, dass seine Antwort nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber was machte das schon aus? Zwischen ihnen war nie etwas gewesen.
»Ich habe heute Mittag übrigens einen zweiten Patienten aus der Psychiatrie auf den Tisch bekommen.«
Er wurde hellhörig. »Martin Horner?«
»Du bist ja bestens informiert. Da haben die Jungs vom LKA einen Volltreffer gelandet.«
Die Jungs vom LKA, dass ich nicht lache, dachte Pulaski. Die und einen Volltreffer!
»Ist er etwa nicht an Herzversagen gestorben?«
»Kann ich noch nicht sagen. Jedenfalls litt er laut medizinischem Bericht an einer Herzinsuffizienz, weshalb er regelmäßig ein Medikament bekam, das seinen Herzschlag beschleunigte«, antwortete die Gerichtsmedizinerin. »Dich wird jedoch mehr interessieren, dass ich eine Punktion in beiden Schultern festgestellt habe.«
»Wie bei Natascha.«
»Offenbar hat der Pathologe die Einstiche übersehen, als er nach dem Tod die Obduktion durchgeführt hat. Normalerweise wären sie mir auch nicht aufgefallen, aber ich habe ja nach Gemeinsamkeiten gesucht.«
»Botox?«
»Möglich.«
Er hatte es geahnt … »Martin ist keines natürlichen Todes gestorben.«
»Die berühmte Ferndiagnose von Professor Pulaski«, spottete Meike. »Weshalb interessiert dich der Fall so?«
»Halt mich bitte einfach auf dem Laufenden.«
Nach dem Telefonat ging Pulaski wieder in sein Büro. Zehn Minuten später kam der ersehnte Anruf aus Dresden - von Philip Koch, der für Datenverarbeitung und Auskunftsdienst zuständig war. Er hatte Pulaski seinerzeit auf einer Feier mit Karin bekannt gemacht und war sein Trauzeuge gewesen.
Philips Stimme klang wie immer einschläfernd, als hätte er eine Hunderter-Packung Valium geschluckt. »Der Patient Sebastian Semmelschläger hat in der Psychiatrie Göttingen Selbstmord verübt. Details sehe ich keine, da müsstest du mit dem Chefarzt telefonieren, aber der wird dir nichts sagen.«
»Weiß ich, Philip, außerdem habe ich das selbst herausgefunden«, unterbrach Pulaski
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