Rachesommer
bereits.«
Evelyn hörte Patricks Gemurmel aus der Muschel und legte den Hörer auf die Gabel. Sie schenkte der Visitenkarte keine Beachtung. »Ich weiß, Sie wollen es nicht hören, aber Rudolf Kieslinger und Heinz Prange hatten eine gemeinsame Vergangenheit«, sagte sie mit kalter Stimme.
Kragers Gesicht rötete sich, aber sie sprach weiter. Er konnte doch nicht so stur sein und ihr nicht zuhören … Sie erzählte von den Zahlungen, von dem anonymen Konto, von dem Foto des Mädchens mit den langen, dünnen Haaren und dem Sommerkleid. Als sie ihr Telefonat mit Holobeck erwähnte, platzte ihm der Kragen.
»Evelyn!«, brüllte er. »Wir sind nicht die Kripo, sondern Anwälte!« Er nahm die Akte Angelika Bäumler gegen Matthias Windbichler und knallte sie demonstrativ auf den Tisch. »Das ist Ihr Fall, sonst nichts! Ich habe Ihnen eine Chance gegeben, aber Sie lassen mir keine Wahl.« Er atmete tief durch, um sich selbst zu beruhigen. »Ich beurlaube Sie für den Rest der Woche. Privat können Sie tun und lassen, was Sie wollen. Klären Sie, was Sie klären müssen, aber bekommen Sie einen klaren Kopf.«
Urlaub? Es klang wie ein Fremdwort. Sie wusste gar nicht mehr, was das bedeutete. Der letzte Urlaub lag Jahre zurück. Eine Karibik-Kreuzfahrt mit Freunden. Sie konnte unmöglich noch heute eine Last-Minute-Reise in den Süden buchen. Aber andernfalls würde ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fallen.
Sie sah ihn mit eisigem Blick an. »Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Und ob das mein Ernst ist!« Krager nahm die Akte vom Tisch. »Bringen Sie Ordnung in Ihr Büro und in Ihr Leben. Nächsten Montag, wenn Sie wieder bei klarem Verstand sind, unterhalten wir uns darüber, wie es weitergeht.«
Er verließ den Raum und knallte die Tür so fest hinter sich zu, dass die Scheibe im Rahmen vibrierte. So wütend hatte sie ihn noch nie erlebt. Offensichtlich waren Holobecks Tod und ihr Auftreten in den letzten beiden Tagen zu viel für ihn gewesen. Und das unmittelbar nach der 25-Jahre-Feier. Nach jedem Hoch kam bekanntlich ein Tief. Außerdem entsprach ihr Verhalten nicht gerade dem, was man von einer künftigen Juniorpartnerin erwartete.
Evelyn starrte auf das Telefon. Keine der Tasten blinkte. Trotz aller Probleme kreisten ihre Gedanken um eine Frage. Was war der dritte Punkt, den Patrick über die beiden Männer herausgefunden hatte?
27
Am späten Nachmittag verließ Walter Pulaski die Halle des Hauptbahnhofs in der Leipziger Innenstadt. Die Stoßzeit hatte soeben begonnen. Die Straßenbahnen knatterten im Minutentakt an ihm vorüber, und die Autos wälzten sich wie ein zäher Lavastrom über die Ringstraße. Eben noch hatte ihn die Musik der zweistöckigen Einkaufspassage im Bahnhof eingelullt, und nun müllte ihn der Verkehrslärm zu.
Eine Peek-&-Cloppenburg-Filiale war überfallen worden, und Dezernatsleiter Fux hatte gemeint, ein Beamter des Dauerdienstes solle sich die Sache ansehen. Die Diebe hatten die Kasse geleert, achthundert Euro Bargeld erbeutet, danach eine Kundin niedergestoßen, ihr die Handtasche geklaut und bei der Flucht eine Kleiderpuppe ins Schaufenster geworfen. Das volle Programm also: Sachbeschädigung, räuberischer Diebstahl, fahrlässige Körperverletzung und möglicherweise noch unerlaubter Waffenbesitz. Pulaski hatte die Zeugen befragt, Fotos geschossen und den Schaden aufgenommen.
Zu seinem Glück hatten die Täter das Bahnhofsgelände jedoch nicht gleich verlassen, sondern waren nach dem Diebstahl noch in einen Kiosk gestürzt, um auch dessen Kasse zu plündern. Dabei war ein Zeitschriftenständer in die Auslage gekracht. Pulaski fragte sich immer wieder, wie man nur so dämlich sein konnte, die Nummer zur selben Zeit am selben Ort zu wiederholen.
Nachdem er eine halbe Stunde im Büro der Bahnhofsverwaltung gesessen hatte, lag ihm eine gestochen scharfe Aufnahme von der Überwachungskamera neben dem Kiosk vor. Damit war der Fall wohl erledigt. Die Fahndung lief wahrscheinlich nicht einmal vierundzwanzig Stunden, und dann würden die beiden Jugendlichen mit Horst Fux im Verhörzimmer der Polizeidirektion in der Dimitroffstraße sitzen. Das war lächerlich, aber wenn es um Jugendkriminalität ging, kümmerte sich Fux meist persönlich darum, auch wenn er noch so viel um die Ohren hatte. Er wollte den Burschen immer einen guten Ratschlag fürs Leben mitgeben. Fux konnte aus seiner sozialen Mentorenrolle eben nicht raus. Manchmal behandelte er die Kriminellen sogar mit mehr Respekt
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