Rachesommer
Freisprechanlage ihres Handys und wählte den Anschluss.
Sie wusste, Cuxhaven lag ebenfalls an der Nordsee, nur wenige Kilometer nördlich von Bremerhaven. Da es sich bei »Edward Hockinson« nicht gerade um einen Allerweltsnamen handelte, war sie davon überzeugt, den Richtigen erwischt zu haben.
Sie legte das Handy auf den Tisch. Patrick setzte sich mühsam auf und rückte näher. Gespannt lauschten sie dem Klang des Freizeichens.
»Was sagst du, wenn er rangeht?«, wisperte er.
Evelyns Herz schlug bis zum Hals. »Keine Ahnung.«
Endlich hob jemand ab.
Eine tiefe Männerstimme mit norddeutschem Akzent ertönte. »Hier spricht Edward Hockinson …«
29
Als es draußen zu dämmern begann, saß Pulaski in seinem Büro und starrte auf den Monitor. Die Zeit verging so zäh wie nur selten.
Horst Fux, der Hüne mit dem Schnauzbart, kam an seinem Zimmer vorbei und steckte den Kopf zur Tür herein. »Ist der Bericht vom Hauptbahnhof endlich fertig?«
»Ich arbeite daran«, log Pulaski. Der Bericht lag seit einer halben Stunde fertig in der Schreibtischschublade. Aus dem Augenwinkel blickte er auf den Monitor.
Suchabfrage zu 96% erledigt.
»Mach schnell, ich möchte die Fahndungsfotos der beiden Jugendlichen noch heute Abend rausgeben.«
»Ja, klar.«
Suchabfrage zu 97% erledigt.
Fux wollte schon wieder gehen, als Pulaski ihm nachrief. »Was gibt es Neues von Goteinik und Winteregger?«
»Das ist nicht mehr dein Fall.«
»Das ist nichts Neues!«
Fux drehte sich um und stemmte sich mit der Hand am oberen Türpfosten ab. Unter seinen Achseln waren große Schweißflecken zu sehen. Immerhin befand er sich schon seit sieben Uhr früh im Dienst, und bestimmt würde es wieder Mitternacht werden. So war nun mal der Job eines Dezernatsleiters. »Soweit ich weiß, verhören sie die Ärzte und Pfleger der Psychiatrie.«
Diese Idioten! Pulaski stöhnte auf. »Reine Zeitverschwendung.«
»Möglich, aber es ist nicht mehr dein Fall.«
»Die machen einen Fehler.«
»Wäre ja nicht das erste Mal.« Fux hob die Schultern. »Was kümmert es dich?«
»Hinter der Sache steckt mehr«, erwiderte Pulaski. »Das spüre ich.«
»Pulaskis berühmter sechster Sinn!« Es klang spöttisch. Doch plötzlich musterte Fux ihn mit zusammengekniffenen Augenbrauen. »Du hörst es nicht gern, aber wärst du beim LKA geblieben, könntest du die Ermittlungen leiten. Du bist dort mal eine große Nummer gewesen, aber mittlerweile bist du weg vom Fenster - zumindest in deren Augen.«
Ja, verdammt. Die alte Leier. Er hatte nichts gegen die Jungs vom LKA, aber mussten ausgerechnet diese beiden Versager die Ermittlungen führen? Wie all die anderen hatte er oft genug weggesehen, wenn Beweise verschwanden und etwas unter den Tisch gekehrt wurde. Doch diesmal wollte er das nicht zulassen. Immerhin ging es um Jugendliche. Was konnten sie schon großartig gegen ihn unternehmen, wenn er auf eigene Faust weiterrecherchierte? Ihn versetzen? Wohin? Er arbeitete ja schon beim Dauerdienst und schrieb den halben Tag Berichte. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen.
Pulaski schielte auf den Monitor.
Suchabfrage zu 99% erledigt.
»Du hast Recht.«
»Denk an den Bericht!« Fux nickte ihm zu und verschwand. In diesem Moment piepste es aus dem Monitor. Suchabfrage beendet. 1 Treffer.
Er hatte sich mit einer neuen Behördenkennzahl in das System des Standesamts eingeloggt und eine Abfrage über die Sterbefälle der letzten drei Monate in der Psychiatrie Göttingen gestartet. 1 Treffer! Die Sterbeurkunde war vor einer Woche ausgestellt worden.
Trotz der Hitze im Büro hatte Pulaski eiskalte, starre Finger, als er auf die Tastatur tippte. Der Patient - ein gewisser Sebastian Semmelschläger - hatte Selbstmord verübt. Laut Geburtsdatum war er neunzehn Jahre alt gewesen. Wie Natascha und Martin. Mehr ließ sich mit seinem Computer und seiner Berechtigung nicht herausfinden.
Pulaski griff zum Hörer und rief das Landeskriminalamt Sachsen an. Er würde sich hüten, mit Goteinik oder Winteregger zu reden. Dafür war es zu früh. Aber es gab genügend andere in Dresden, die er aus seiner aktiven Zeit als Kriminaloberkommissar kannte und die ihm noch einen Gefallen schuldig waren.
Während er auf den Rückruf aus Dresden wartete, trank er in der Teeküche einen Kaffee und rauchte eine Zigarette. Er hatte den Umweg zur Küche genommen, um nicht am Büro von Fux vorbeizulaufen.
In der Küche war es dunkel. Pulaski lehnte mit der Stirn am Fenster und
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