Rachesommer
Anstalt.«
Pinsger bekam einen roten Kopf. Er wollte sich abwenden, doch Pulaski hielt ihn am Mantelkragen fest.
»Eine Minute noch, Doktor«, zischte er. »Dort, wo ich herkomme, wurden letzte Woche zwei Jugendliche in einer psychiatrischen Anstalt ermordet. Höchstwahrscheinlich kannte Sebastian die beiden, denn sie wurden zur gleichen Zeit vor zehn Jahren in derselben Klinik in Bremerhaven behandelt. Damals gab es dort noch ein viertes Kind: Lesja Prokopowytsch. Möglicherweise schwebt sie in Lebensgefahr. Und Sie sollten mich schleunigst zu ihr bringen, damit wir herausfinden, was vor zehn Jahren passiert ist, bevor der Killer erneut zuschlägt und Sie ein weiteres Kind im Leichensack hier rausschaffen müssen.«
Pulaski ließ den Arzt los. Dieser schnappte zunächst nach Luft, dann überlegte er. Womöglich sah Pinsger einen schwarzen Leichensack vor sich, den die Beamten über Lesja verschlossen.
»Die Sache bleibt unter uns?«, flüsterte er.
»Natürlich.«
Pinsger nickte zur Treppe. »Lesja ist oben in ihrem Zimmer. Folgen Sie mir.«
36
Pulaskis Schritte hallten durch das Treppenhaus. Die gekachelten Wände, das schmiedeeiserne Geländer und die hohen vergitterten Fenster erinnerten ihn an ein Zuchthaus. So entzückend die Häuser von außen wirkten, so bedrückend sah der Pavillon von innen aus.
»Was können Sie mir über den Jungen erzählen?«, fragte Pulaski.
»Sebastian hat wie Lesja in diesem Trakt gewohnt. Seine Therapie war erfolgreich. Nächsten Monat wäre er in ein betreutes Wohnheim übersiedelt. Er hatte bereits Freunde gefunden und sogar ein Jobangebot erhalten. Darum hat niemand verstanden, dass er…«
»Wie hat er sich das Leben genommen?«, fragte Pulaski.
Der Arzt deutete durch das Treppenhaus zur Decke des dritten Stockwerks. »Dort oben befindet sich die Auszugstreppe in den Speicher. Sebastian ist raufgeklettert und vom Dach gesprungen.«
»Gab es Zeugen?«
»Es geschah in der Nacht.«
Wie der Mord an Natascha Sommer, dachte Pulaski. Sie erreichten den ersten Stock.
»Leidet Lesja ebenfalls unter dissoziativer Identitätsstörung?« Pinsger hob überrascht die Augenbrauen. »Sie kennen diesen Begriff?«
»Sonja Willhalm hat mir etwas darüber erzählt.«
»Eine integre Frau.« Pinsger lächelte. »Mit Leib und Seele Therapeutin, eine der besten, die wir je hatten.« Bestimmt, dachte Pulaski. »Und Lesja?«
»Nächste Woche wird sie in die Erwachsenenpsychiatrie überwiesen. Eine schwierige Patientin, die eine heikle Therapie benötigt. Es existiert kein vollständiges Ich. Wir unterstützen Lesja dabei, sämtliche Teilidentitäten zu integrieren.«
»Wie funktioniert das?«
»Mit hypnotherapeutischen Methoden. Stellen Sie sich vor, die fragmentierten Personen sind innere Puzzleteile, die wir zueinander in Verbindung bringen und zu einem Ganzen zusammenfügen müssen.«
Sie erreichten den zweiten Stock. Der Arzt nahm die nächste Treppe in Angriff, als Pulaski kurz stehen blieb, keuchend sein Asthmaspray hervorholte und inhalierte.
»Benötigen Sie Hilfe?«
Er schüttelte den Kopf. »Reden Sie weiter.«
»Während der Therapie gelang es Lesja, mehrere Teilpersönlichkeiten sozusagen unter einen Hut zu bringen. Mittlerweile weiß sie, dass sie nicht verrückt ist, und hat entdeckt, dass ihre Psyche aus vielen verschiedenen Persönlichkeiten besteht. Wir bringen eine Struktur in das Chaos, sodass sie ihr Leben organisieren kann. Schließlich muss sie lernen, ihren Körper mit andern zu teilen. Die Vorstellung, dass jemand anders in ihrem Körper wohnt und diesen übernimmt, während sie einen >Filmriss< hat, ist nicht angenehm.«
Das konnte Pulaski sich lebhaft vorstellen. »Wird sie jemals wieder gesund?«
Pinsger lächelte nachsichtig. »Gesund ist ein umfassender Begriff. Wir haben bereits erreicht, einige Persönlichkeiten miteinander zu verschmelzen. Das ist schon ein großer Fortschritt.«
Sie erreichten den dritten Stock, und der Arzt ging in einen langen, dunklen Gang, an dessen Ende sich nur ein Fenster befand.
»Haben Sie jemals herausgefunden, was ihr vor zehn Jahren zugestoßen ist?«
»Dieses Trauma den anderen Persönlichkeiten bewusst zu machen ist der schwierigste Aspekt, da viele Teile von Lesja nicht einmal wissen, warum sie hier ist. Dazu kommt, dass die Person, welche die traumatischen Vorfälle erlebt hat, erst seit wenigen Monaten ansprechbar ist.«
»Und woran kann sich Lesja erinnern?«
Der Arzt hielt vor einer Tür mit der
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