Rachesommer
Shakespeare und Solschenizyn. Ein musikalischer Mensch war Hockinson nicht gewesen, denn bis auf ein paar Schallplatten von Benny Goodman befanden sich nur Bücher im Raum.
Der große Wandverbau auf der anderen Seite war bis zur Decke mit Büroordnern gefüllt. Evelyn betrachtete die beschrifteten Ordnerrücken. Schriftverkehr, Verträge, Rechnungen, Kontoauszüge, Versicherungspolicen - alles peinlich genau nach Jahren sortiert.
Nachdem Evelyn einige Zeit damit verbracht hatte, im düsteren Zwielicht des Büros die Verträge, Briefe und Policen aus dem Jahr 1998 zu studieren, war sie mehrmals auf den Schiffsnamen Friedberg gestoßen. Doch mit diesen Unterlagen ließ sich nichts anfangen. Der Luxusliner hatte eine Länge von fünfundsechzig Metern und bot insgesamt nur dreizehn Passagieren Platz. Dementsprechend groß waren die Suiten. Es gab vier Decks, wobei das Sonnendeck fünfzehn Meter über dem Wasser lag und nur mit einem Lift erreicht werden konnte. Das Schiff verfügte über Sauna, Dampfkammer, Kaltwasserbecken, Ruheräume, einen Schönheitssalon, Massageräume, einen Saal mit Videobeamer sowie ein Fitness-Center mit Laufbändern und Rudergeräten. In einem Prospekt stand, dass die Friedberg sogar einen Weinkeller und einen Helikopter-Landeplatz hatte. Auf dieser Megajacht musste man sich fühlen wie Krösus auf einem schwimmenden Schloss.
Allerdings fand Evelyn keine Preisliste. In dieser Kategorie gab man Gebühren nur auf Anfrage bekannt. Und Leute wie Prange oder Kieslinger mussten sich wegen Geld keine Sorgen machen. Auf einer Abbildung in einem Flyer sah das Boot aus wie eine Rakete. Mit drei Dieselgeneratoren erreichte das Schiff eine Spitzengeschwindigkeit von achtzehn Knoten pro Stunde. Damit kam man in neun Tagen ganz schön herum.
Frustriert stellte sie die Ordner an ihren Platz zurück und zog eine weitere Mappe mit dem Aufkleber Bankauszüge Juli-September 1998 heraus. Staubpartikel stoben auf und tanzten glänzend im Licht, das fächerförmig durch die Jalousien fiel. Über den Kontoauszügen war ein graues Kuvert abgeheftet. Evelyn öffnete es und zog ein vergilbtes Blatt Papier hervor. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine Adressliste, doch bei näherer Betrachtung entdeckte sie verblasste Unterschriften.
Ihr Mund trocknete aus, als sie den Namen Rudolf Kieslinger las. Unterhalb der Wiener Adresse befand sich eine Signatur. Diese Liste bestand aus insgesamt einem Dutzend Namen mit Anschriften. Eine Passagierliste! Heinz Pranges Name mit seiner Münchner Adresse befand sich ebenfalls drauf. Evelyns Hände zitterten. Patrick hatte also Recht behalten. Die beiden Männer kannten sich von einer gemeinsamen Schiffsreise auf dem Luxusliner.
Die anderen Namen sagten ihr nichts. Ihr fiel nur auf, dass sich keine Frauen darunter befanden. Die Gäste hießen Rene Manzon, Mark Pelling, Kurt Hanson, Richard Ruschko, Martin Ritter, Thomas Eberhardt, Georg Pallock und …
Ungläubig las sie den nächsten Namen ein zweites Mal. Was für ein Zufall! Sie kannte jemanden, der genauso hieß. Dann bemerkte sie die Adresse. Plötzlich begann sich alles um sie herum zu drehen. Als würde sie rücklings in einen Schacht fallen, wurde ihr schwarz vor Augen. Eine Wiener Adresse. Der futuristische Wohnpark. Ein Penthouse im 23. Stock. Das konnte unmöglich sein.
Wie kam die Adresse auf dieses Papier? Immer wieder las sie den Namen jenes Mannes, der gestern angeblich bei einem Unfall über den Balkon seiner Wohnung gestürzt war: ihr Anwaltskollege Peter Holobeck.
39
Laken, Kissen und der Melanboden waren voller Blut. Eine junge Frau mit bleichem Gesicht lag reglos auf dem Bett. Es sah aus, als triebe sie in einem Meer aus dunklen Rosenblüten. Aus einer Hand ragte die Rasierklinge, mit der sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Das Blut glänzte und pulsierte immer noch schwach aus den Wunden. Die Schnitte konnten nicht älter als ein paar Minuten sein.
Doktor Pinsger sah sich im Zimmer um und schnappte ungläubig nach Luft. Pulaski drängte ihn zur Seite. Der Fensterflügel stand offen und schlug gegen den Rahmen. Hinter ihnen ließ der Wind die Tür ins Schloss fallen.
»Hat ein Fremder das Haus betreten?«, rief Pulaski.
»Nein.«
Pulaski packte den Arzt am Arm und sah ihm in die Augen. »Hören Sie mir zu! Rufen Sie einen Krankenwagen. Die Kleine braucht eine Transfusion. Aber weichen Sie nicht von ihrer Seite. Haben Sie verstanden?«
»Natürlich.«
Der alte Arzt lief zum Bett.
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