Rachesommer
Nummer 311. Unwillkürlich senkte er die Stimme. »Lesja wurde als Kind mehrfach missbraucht. Einer der Männer schenkte ihr ein flauschiges Kuscheltier, das sie zu sich ins Bett nehmen durfte. Einen gelben Hasen mit langen Ohren. Sie nannte ihn Elvira. Eines Nachts, als der Mann wieder zu ihr kam, schlitzte er das Stofftier auf und drohte Lesja, das Gleiche mit ihr zu tun, falls sie je über die Ereignisse sprechen sollte.«
Pulaskis Gaumen wurde trocken. »Was für ein Scheißkerl!«
»Kein Wort darüber«, flüsterte der Arzt. »Überlassen Sie das Reden besser mir.« Er klopfte an die Tür und drückte die Klinke nieder.
Pulaski wollte dem Doktor ins Zimmer folgen, doch der Arzt erstarrte mitten in der Bewegung. Der Raum bestand nur aus einem Bett, einem Schrank, einem Tisch und einer Waschgelegenheit … und alles war voller Blut.
37
Evelyn saß in ihrem Leihwagen, der immer noch neben dem Eingang der Villa parkte, und grübelte über Greta Hockinson nach. Was verschwieg diese Frau? Und aus welchem Grund? Doch Evelyn wusste, es führte zu nichts, auch wenn sie sich das Hirn noch so sehr zermarterte. Schließlich griff sie zum Handy und rief Patrick im Büro an.
»Hallo Spitzmausigel«, meldete er sich auf Anhieb, als hätte er neben dem Apparat auf ihren Anruf gewartet. »Was hast du über den alten Knaben herausgefunden?«
»Er ist tot…«
»Du hast ihn doch nicht etwa …?«
»Ach, Quatsch.« Sie erzählte von der Bekanntschaft mit Greta, Hockinsons Autounfall, der Phantomzeichnung und dem Gespräch im Wintergarten.
»Junge, Junge - Leichen pflastern deinen Weg«, murmelte Patrick, nachdem Evelyn geendet hatte. »Und du bist absolut sicher, dass du mit keinem Wort erwähnt hast, dass die Friedberg vor zehn Jahren mit Prange und Kieslinger an Bord ausgelaufen ist?«
»Patrick, ich bin Anwältin. Glaubst du, ich vergesse, was ich sage?«
»Auch wieder wahr.« Er schien zu überlegen. Überraschenderweise schob er diesmal keinen Anwaltswitz nach. »Gehen wir also davon aus, dass diese Greta nicht nur einen Reitstall führt, sondern auch mehr über die Geschäfte ihres Vaters weiß, als sie zugibt. Du hast doch hoffentlich das Phantombild mitgenommen?«
»Nein.«
»Oh, Sch…ande!«, zischte Patrick.
»Ich denke, es wird Zeit, die Kripo einzuschalten.«
»Was sollen die bitte schön unternehmen?«, wandte er ein. »Das Foto von der Kamera eines Geldautomaten, die Zeugenaussagen in einem abgeschlossenen Gerichtsfall, den mein Vater unter Verschluss hält, und ein anonymes Konto in Hamburg sind einfach zu wenig.«
Evelyn senkte den Kopf und blickte durch das Seitenfenster in den Garten. Hinter dem schmiedeeisernen Zaun sah sie, wie Greta soeben wütend gestikulierend aus dem Pavillon lief. Zwei Techniker folgten ihr. »Mittlerweile wissen wir aber, dass Edward Hockinson in der Sache mit drinsteckt und dass die junge Frau im Spaghettiträgerkleid auch etwas mit seinem Tod zu tun hat.«
»Ich sage es nur ungern …« Patrick sog die Luft zischend ein. »Aber wir brauchten das Phantombild oder zumindest ein paar andere Beweise.«
»Das sagt sich so leicht. Soll ich die Informationen aus Greta rausprügeln?«
»Besser wären Bankbelege oder eine Buchungsbestätigung dieser Schiffsreise.«
Greta und die beiden Techniker verschwanden im Treppenabgang, der neben dem Haus in den Keller führte. Im nächsten Moment war der Garten menschenleer.
»Bis später.« Evelyn unterbrach die Verbindung und warf das Handy auf den Beifahrersitz. Dann griff sie nach dem Foto und stieg aus dem Wagen.
Mit rasendem Herzen stand sie im Wintergarten und sah sich um. Die Tür war nur angelehnt gewesen. Greta und die Techniker von Sicuro befanden sich nach wie vor im Keller.
Mit angehaltenem Atem schlich Evelyn zum Korbtisch, auf dem das Phantombild lag. Während sie durch die Scheiben in den Garten spähte, faltete sie das Blatt zusammen und ließ es in der Tasche ihrer Jeans verschwinden. Für den Fall, dass Greta sie erwischte, hatte sie sich die Ausrede zurechtgelegt, dass sie noch einmal zurückgekehrt sei, um ihr Foto zu holen, das sie auf dem Tisch vergessen habe.
Eigentlich war sie fertig. Unschlüssig stand sie zwischen den Rattanstühlen und schielte zur Kommode. Falls sie die Schublade öffnete, machte sie sich des Einbruchs schuldig. Nachdem ihr Chef Krager sie und Patrick dabei ertappt hatte, wie sie nachts in sein Büro eingedrungen waren, hatte sie sich geschworen, die Finger von krummen
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