Rachesommer
ihm den Weg dorthin beschrieben. Der Vormittag war wie im Flug vergangen.
Nachdem Pulaski seine Tochter an diesem Morgen mit dem Wagen zur Schule gebracht hatte, fuhr er zum Kaffeehaus Lütgenstein im Süden Leipzigs. Dort traf er sich mit der Therapeutin. Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie seine Einladung zum Frühstück tatsächlich annehmen würde, zumal er am Telefon nur erwähnt hatte, dass er etwas mit ihr besprechen müsse. Doch offensichtlich wollte sie genauso wie er, dass Nataschas Mörder gefasst wurde. Als Pulaski eintraf, saß sie bereits mit einem Cappuccino in einer Nische.
Während er Kaffee trank, eine Zigarette rauchte und sich die Seele aus dem Leib hustete, erzählte er ihr von den Ermittlungen und danach von seinen Plänen. Willhalm hörte ihm aufmerksam zu, allerdings nahm sie ihm, während er sprach, die Zigarette aus der Hand und drückte sie vor seinen Augen aus. Schmunzelnd ließ er es geschehen. Schließlich erwähnte sie, dass sie ihre Ausbildung in Göttingen absolviert habe und den Chefarzt der Kinderpsychiatrie kenne. Doch der würde Pulaski wegen der Schweigepflicht nichts sagen. Pulaski wollte es trotzdem riskieren. Willhalm versprach ihm, den Arzt anzurufen und seinen Besuch anzukündigen. Mehr konnte sie nicht tun - immerhin arbeitete Pulaski nicht mehr an dem Fall und war offiziell im Urlaub.
Um neun brachte er sie mit dem Wagen zur Psychiatrie Markkleeberg, wo sie ihren Dienst antrat, danach fuhr er weiter nach Göttingen.
Die Schranke hob sich, und der Portier winkte Pulaski in seinem klapprigen Skoda durch. Offensichtlich hatte es hier am Vormittag geregnet. Der Asphalt war noch nass, und am Straßenrand standen die Pfützen.
Das Gelände war ungewöhnlich groß - wie Willhalm es ihm beschrieben hatte. Im Grunde genommen glich das psychiatrische Areal einer riesigen Parkanlage mit einzelnen Gebäuden, so genannten historischen Pavillons. Pulaski fuhr im Schritttempo über die brüchigen Asphaltwege, die zwischen dem weitläufigen Labyrinth aus Alleen, Hecken und Rosenbeeten hindurchführten. Wenn er nicht wüsste, dass in den uralten, zwei- und dreistöckigen Bauwerken schwer kranke Patienten untergebracht waren, hätte er geglaubt, er befände sich im Park einer Kuranstalt aus der Kaiserzeit. Doch was sich hinter den Mauern abspielte, hatte bestimmt nichts mit einem gemütlichen Kuraufenthalt zu tun.
Die Wegweiser führten ihn zu einem Bereich der Kinderpsychiatrie, der Dissoziative Persönlichkeitsstörung hieß. Hier war Sebastian Semmelschläger untergebracht gewesen, bevor er sich vor einer Woche das Leben genommen hatte - und hier lebte Lesja Prokopowytsch.
Pulaski lenkte den Wagen auf den Besucherparkplatz neben dem Pavillon 27b. Er war zu früh dran. Doktor Pinsger würde ihn erst um 13.00 Uhr empfangen. Also blieb er im Auto sitzen und nahm das Buch vom Beifahrersitz. Hot Water Music. Stories von Charles Bukowski. Irgendwo mitten in der sechsten Geschichte hatte er eine Seite eingeknickt. Weiter war er heute Morgen und während seines Aufenthalts in der Autobahnraststätte nicht gekommen. In dem Text ging es um Bars, Drinks, einsame Blondinen, die Zigarillos rauchten, und Betrunkene, die Münzen für die Musicbox schnorrten. Nichts Weltbewegendes. Stories, die er täglich auf der Straße erlebte. Warum las bloß jemand diesen deprimierenden Mist? Und warum hatte ausgerechnet Natascha Sommer das getan, bevor ihr der grauhaarige Kerl den Gin eingeflößt und die Überdosis Schmerzmittel injiziert hatte?
Natascha hatte in ihrer Kindheit bestimmt genug mitgemacht. Wollte das Mädchen, das nie ein Wort gesprochen hatte, mehr über das wahre Leben erfahren? Darüber, wie Männer dachten und weshalb sie Frauen bestimmte Dinge antaten? Die Hintergründe kennenlernen, was in diesen kranken Gehirnen vorging? Dann war sie bei Bukowski richtig. »Der Mensch war der Abschaum des Universums«, hieß es in einer der ersten Geschichten. Vielleicht war Bukowski kein Poet gewesen - das konnte Pulaski nicht beurteilen -, aber der Mann hatte nicht einmal so Unrecht mit dem, was er schrieb. Allerdings gab es auch Dinge, die das Leben erträglich machten, worüber Bukowski kaum Worte verlor.
Pulaski hatte den schmalen Band in seiner Wohnung gefunden, in einer der vielen zugeklebten Schachteln, in denen sich Karins persönliche Gegenstände befanden und die er gestern Nacht allesamt aufgerissen hatte. Sie war Lektorin eines Kinderbuchverlags gewesen. Bevor der Krebs
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