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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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begonnen hatte, sie innerlich zu zerfressen, hatte sie pro Woche mindestens zwei Bücher gelesen. Meistens am Abend, wenn Pulaski in Dresden seine Nachtschichten beim LKA schob. Obwohl er mit Literatur nichts anfangen konnte, waren ihm einige Namen in Erinnerung geblieben. Salinger, Hemingway, Faulkner oder Burroughs. Er selbst kannte nichts davon. Er hatte zwar mal etwas von Boris Pasternak gelesen, das Buch aber nach zwanzig Seiten wieder weggelegt. In seiner Welt gab es keinen Platz für Poesie - und schon gar nicht seit Karins Tod. Im Moment erinnerte ihn bloß der Gedanke an seine Tochter, die unfähigen Beamten und den Mörder, der sich in die Psychiatrie schlich und Kinder tötete, dass er weiter funktionieren musste.
    Als er umblätterte, erfasste ihn eine innere Unruhe. Er las die Geschichte nicht zu Ende, sondern stieg aus dem Wagen und betrat den Pavillon. Es war kurz vor eins.
    Doktor Pinsger erwartete ihn bereits. Der Mann war knapp sechzig, reichte Pulaski bis zur Schulter und wog mit seinem Kittel bestimmt nicht mehr als ein nasser Kartoffelsack. Pulaski hatte gehofft, auf einen normalen Menschen zu treffen, aber den Gefallen tat Pinsger ihm nicht. Mit der Halbglatze, dem wirren weißen Haarkranz und den großen Augen hinter den dicken Brillengläsern wirkte er wie ein aufgeschrecktes Huhn.
    Doktor Pinsger reichte Pulaski die Hand und führte ihn in den Vorraum. Es roch nach Bratensoße und frittiertem Fisch. Durch eine gläserne Schwingtür tönte das Klappern von Tellern und Besteck.
    »Wir haben gerade Mittagspause«, erklärte Pinsger. »Was kann ich für Sie tun?«
    Pulaski hängte seinen Mantel auf den Kleiderständer. Dabei klaffte sein Sakko auf. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie der Arzt auf seine Dienstwaffe im Schulterholster starrte.
    Pinsger räusperte sich. »Doktor Willhalm erwähnte am Telefon, dass Sie Kripoermittler in Leipzig seien und sich für Lesja und Sebastian interessieren.«
    »Das ist richtig.« Pulaski knöpfte das Sakko zu, damit niemand die Waffe sehen konnte. Er hatte das Holster heute Morgen aus reiner Gewohnheit angelegt. Im Geiste steckte er zu tief in den Ermittlungen des Falls, als dass er den heutigen Tag tatsächlich als Urlaub wahrnahm. Umso wichtiger, dass er sich immer wieder ins Gedächtnis rief, nur als Privatperson hier zu sein, vor allem, weil er sich so weit von seinem Territorium entfernt hatte.
    »Dürfte ich die Erklärung des Staatsanwalts sehen, die mich von der Schweigepflicht entbindet?«
    Pulaski atmete tief durch. Ihm war klar gewesen, dass es nicht so einfach ablaufen würde. »Ich bin zurzeit im Urlaub und aus privaten Gründen hier«, gab er zu.
    »Weiß Ihre Dienststelle von unserem Treffen?«, fragte der Arzt.
    »Nein.«
    Der Arzt kaute an der Unterlippe. Möglicherweise hielt er alles für einen schlechten Scherz. »Kennen Sie einen der beiden Jugendlichen persönlich?«
    »Nein.«
    »Verraten Sie mir eines, Herr Pulaski.« Der Arzt senkte die Stimme. »Sie kommen außerhalb Ihrer Dienstzeit als Privatperson her, um sich nach Patienten zu erkundigen, die Sie nicht kennen. Wozu benötigen Sie die Waffe?«
    Das Gespräch nahm eine Wendung, die ihm nicht behagte. Er hätte die Walther PK im Handschuhfach des Wagens liegen lassen sollen, dann wären ihm die Fragen dieses Gnoms erspart geblieben.
    »Wenn Sie es wünschen, lege ich die Dienstwaffe ins Auto.«
    Pinsger schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Ich fürchte, unser Gespräch ist beendet. Wenn Sie etwas von mir über unsere Bewohner wissen möchten, sollten Sie vorher mit Ihrer Dienststelle in Leipzig reden oder sich mit den Beamten in Göttingen kurzschließen. Außerdem kann ich ohne Anweisung des Staatsanwalts sowieso nichts für Sie tun.«
    Pulaskis Blut begann zu kochen. »Ich bin ganze drei Stunden mit dem Auto hergefahren!«
    »Und wenn Sie zehn Stunden hergefahren wären. Es tut mir leid, aber Sonja Willhalm erwähnte nicht, dass es sich um eine private Angelegenheit handelt. Und dann betreten Sie unsere Anstalt auch noch mit einer Schusswaffe.«
    Verdammte Scheiße! Am liebsten wäre Pulaski die Decke hochgegangen.
    »Gehen Sie bitte!«
    Der Mann ließ ihm keine andere Wahl. Pulaski trat einen Schritt näher, senkte den Kopf und flüsterte in Pinsgers Ohr: »Hören Sie mir jetzt genau zu. Ich weiß, dass Sebastian Semmelschläger Selbstmord verübt hat. Aber ich bezweifle, dass er sich freiwillig das Leben genommen hat. Meines Erachtens haben Sie eine Sicherheitslücke in Ihrer

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