Rachesommer
Anstalt, danach verlor sich ihre Spur wie der Sand in den Dünen.« Er räusperte sich. »Danke, dass Sie zugehört haben.«
Es klang, als hätte er soeben seine Lebensbeichte abgelegt.
Schließlich erhob er sich, schob den Vorhang zum Wohnzimmer beiseite und ging zum Schwedenofen. Das Holz war niedergebrannt, die Glut nahezu erloschen. Er öffnete die Tür und schob neue Holzscheite in den Ofen. Danach setzte er sich wieder zu Evelyn auf die Couch. »Weshalb wollten Sie sich mit zehn Jahren das Leben nehmen?«
Evelyn hörte die Frage zunächst nicht. Zu sehr ging ihr Smolles Erzählung durch den Kopf. Plötzlich fuhr sie hoch. »Was?«
Statt die Frage zu wiederholen, griff er vorsichtig, beinahe zärtlich nach ihrer Hand. Sie ließ es geschehen und zuckte nicht einmal zurück, als er den Ärmel ihres Pullovers hochschob. Die Narbe an ihrem Handgelenk kam zum Vorschein. Sie verlief quer über den Arm und war nur noch schwach zu erkennen. Damals hatte sie fast nichts darüber gewusst. Hätte sie die Glasscherbe entlang der Ader hineingedrückt, säße sie heute vermutlich nicht hier.
»Haben wohl Ähnliches erlebt?«, vermutete Smolle.
Sie schüttelte den Kopf - eine Spur zu heftig. Hatte es überhaupt einen Sinn zu lügen?
»Sehe es an Ihrem Blick.« Er ließ ihren Arm los. »Sie müssen nicht darüber sprechen, wenn Sie nicht möchten.«
Vielleicht wollte sie es sogar. »Meine achtjährige Schwester wurde vor meinen Augen von einem Mann in den Fond eines Kastenwagens gezerrt.« Sie sah den stämmigen Kerl vor sich, als wäre es gestern geschehen. »Niemand auf dem Schulparkplatz merkte etwas davon. Er hielt sie am Arm fest und sagte, er würde ihr wehtun, wenn ich nicht ebenfalls zu ihm in den Wagen steige. Wäre ich damals weggelaufen, wäre alles anders gekommen, aber ich hatte zu große Angst um meine Schwester.« Evelyn biss sich auf die Unterlippe, um die Tränen zu unterdrücken. Sie spürte Smolles Hand auf ihrer Schulter.
»Also kletterte ich in den Fond. Er schlug die Tür zu, verschnürte unsere Beine und fesselte uns die Hände auf den Rücken.
Danach klebte er ihr den Mund zu. Für mich reichte das Klebeband nicht mehr, darum zog er mir einen stinkenden Sack über den Kopf. Ich gab keinen Mucks von mir. Erst als er den Motor startete, wollte ich um Hilfe rufen, mir die Seele aus dem Leib schreien, doch die Musik in seinem Wagen übertönte alles. So viele Leute standen auf dem Parkplatz. Bis heute weiß ich nicht, warum niemand etwas bemerkt hat.«
Evelyn wischte sich die Tränen von den Wangen. Ein Donnergrollen ließ sie innerlich frösteln. Der Wind peitschte den Regen unaufhörlich gegen die Scheibe. Es war die gleiche Jahreszeit gewesen … Schulbeginn … und es war ebenfalls ein Gewitter aufgezogen. An jenem Tag hatte sie das heiße Kribbeln im Magen zum ersten Mal gespürt - wie einen Krampf, bei dem sich ihre Eingeweide zusammenzogen. Sie hatte bereits zu viel von ihrer Vergangenheit preisgegeben. Von der Jagdhütte im Wald und dem feuchten Keller würde sie Smolle nichts erzählen. Nur Patrick kannte diese Details.
Da riss sie das Läuten ihres Handys aus den Gedanken. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Telefon. Die Ziffern auf dem Display verschwammen vor ihren Augen. Sie wischte sich die Tränen weg. Es war 23.56 Uhr. Patricks Nummer blinkte auf. Warum rief er so spät noch an?
»Hallo.«
»He, hab ich dich geweckt?«, flüsterte er. Scheinbar war seine Stimmung nicht besser als ihre.
»Nein, ist okay.« Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Smolle sich erhob und zum Ofen ging.
»Du klingst nicht gut.«
»Es geht schon. Was gibt’s?« Sie räusperte sich. »Du hast mir doch diese Liste gefaxt.«
Die Passagierliste aus dem Ordner. Es kam ihr vor, als wäre ihr Besuch in Hockinsons Arbeitszimmer eine Ewigkeit her. »Was ist damit?«
Das Scharnier der Ofentür quietschte. Sie hörte, wie Smolle die Glut mit dem Schürhaken aufwühlte. Der Luftzug fachte das Feuer an, und das Holz begann zu knistern.
»Ich habe einige Namen überprüft. Diese Typen sind Ärzte, Politiker, Beamte und Rechtsanwälte. Ich habe da brisantes Material…«
Plötzlich ging ein Ruck durch den Wohnwagen. Die Zimmerdecke vibrierte, und die Teetassen tanzten über den Tisch. Evelyns Herz schlug bis zum Hals.
»Evelyn … Evelyn?«
Sie hatte das Handy fallen lassen. Es lag irgendwo auf dem Boden neben den Küchenschränken. Patricks Stimme klang so weit entfernt.
Sie sah sich gehetzt um. Da hörte
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