Rachesommer
sie das Knarren des Seils.
Ihr war gar nicht aufgefallen, dass Smolle den Vorhang zugezogen hatte. Dahinter zeichnete sich ein Schatten ab, der hin- und herschwang. Unter dem Vorhang sah sie Smolles Knie, die über den Boden schleiften.
49
Pulaski und der Chefarzt durchstöberten bereits den dritten Kellerraum. Nachdem sie die Unterlagen der Intensivstation durchgesehen hatten, versuchten sie es mit den Akten aus der Chirurgie. Auch in diesem Archiv waren sie von Dutzenden Kisten umgeben. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne, die so staubig war, dass sie nur noch gedämpftes Licht durchließ. Es sah beinahe so aus wie im Archiv des Leipziger Reviers. Kein Wunder, dass Vobelski sich diesen Raum als Letztes hatte vornehmen wollen.
Pulaski bewunderte die Geduld des Doktors, dessen Pieper ständig läutete. Jedes Mal rief er sofort mit dem Handy zurück und vertröstete seine Leute seelenruhig damit, dass er im Moment beschäftigt sei.
»Dort oben«, sagte er, nachdem er wieder einen Anruf getätigt hatte. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und zog eine Schachtel aus dem Regal. »Na bitte, da haben wir es ja - August 1998.«
Er wuchtete den Karton auf den Boden. »Im Jahr darauf wurden sämtliche Daten auf ein neues Computersystem umgestellt - unmittelbar vor der Jahrtausendwende. Können Sie sich das vorstellen? Was für ein Wahnsinn! Nichts funktionierte. Danach hat sich niemand mehr die Mühe gemacht, die alten Daten digital nachzuerfassen. Es wird Zeit, dass der Krempel mal auf Mikrofiche fotografiert wird.«
Vobelski nahm den Deckel ab und blätterte durch die Akten. Endlich zog er eine Mappe heraus und blies den Staub vom Deckblatt. »Lesja Prokopowytsch«, las er vor.
Pulaski ließ die angespannten Schultern sinken. »Wir haben es.«
Danach fanden sie noch die Akten von Martin Horner, Sebastian Semmelschläger und von dem unbekannten Mädchen mit den Sommersprossen, das die Markkleeberger Therapeuten achtzehn Monate nach der Behandlung Natascha Sommer nennen sollten.
»Hier ist die Akte des fünften Kindes.« Vobelski zog eine weitere Mappe heraus. »Richtig, jetzt erinnere ich mich wieder. Ein zartes, zerbrechliches Mädchen mit langen blonden Haaren wie ein Engel.«
Pulaski wischte den Staub vom Deckblatt.
Lisa Gurdijew stand auf dem Karton.
Falls sich der Arzt korrekt an die Schlagzeilen von damals erinnerte, war Lisa eines der vier Waisenkinder gewesen.
Vobelski fuhr mit dem Finger über die Zeilen des medizinischen Berichts. »Sie wäre um ein Haar an einer Überdosis Heroin gestorben. Zum Glück war in jener Nacht ein Toxikologe im Dienst, der ihr ein Antidot injizierte, um das Gift aus ihrem Körper zu bekommen.«
Pulaski betrachtete das Foto der Zehnjährigen. Sie hatte schwere Blutergüsse unter den Augen, an den Wangen und am Hals. »Darf ich das Bild haben?«
Vobelski verzog das Gesicht zu einer unglücklichen Miene. »Sie wissen, ohne Durchsuchungsbeschluss und Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht dürfte ich mit Ihnen gar nicht hier unten sein.«
»Ich weiß es auch zu schätzen.« Pulaski räusperte sich. »Doch falls das Mädchen noch lebt, schwebt es womöglich in Lebensgefahr. Können Sie wenigstens rausfinden, wohin sie nach der Behandlung gebracht wurde?«
»Das geht.« Der Arzt fand ein Empfehlungsschreiben, an das ein Überstellungsprotokoll geheftet war. »Sie kam in die Psychiatrie Ochsenzoll. Die Kollegen in Hamburg können Ihnen sicherlich weiterhelfen.«
»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch dort ist?«
Der Arzt zuckte mit den Achseln. »Kommt darauf an, wie schwer sie traumatisiert war und wie schnell die Therapie gegriffen hat.«
Pulaski blickte auf die Uhr. Jetzt würde er in der Anstalt niemanden mehr erreichen - es war kurz vor drei Uhr morgens. Aber wenn er gleich losfuhr, war er vor dem Morgengrauen dort.
Falls Lisa noch in Hamburg lebte, musste er sie rechtzeitig finden, bevor der Grauhaarige sie in die Finger bekam.
49
Die Wartehalle im Bahnhof von Westerland bestand nur aus einem weißen Fliesenboden und Hartschalen-Sitzbänken. Es stank nach Urin. Die flackernde Neonröhre an der Decke verbreitete die gleiche Kälte, die Evelyn in ihrem Inneren spürte. Sie kauerte mit angezogenen Beinen auf der Bank und hatte die Hände in den Pulloverärmeln vergraben. Der blaue Norweger ihrer Mutter roch nach Salzwasser. Atem stieg vor ihrem Gesicht auf, aber sie sah ihn nicht. Von den vielen Tränen, die sie in den
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