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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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wartete noch, bis sie ihm einen Kuss übers Telefon gegeben hatte, dann legte er auf.
    Dieses Wochenende wollte er sein Versprechen einlösen. Aber wenn er aus dem Fenster blickte, zweifelte er daran, ob das möglich war. Die dunkle Wolkenfront schob sich immer näher an die Scheiben heran. In weiter Ferne gingen die ersten Blitze nieder. Noch war nichts zu hören, aber der Donner würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Im nächsten Moment zerplatzten auch schon die ersten Regentropfen auf dem Glas.
    Hinter dem Infoschalter und im Korridor wurde es merkwürdig still. Hin und wieder klingelte die Fahrstuhltür im darunter liegenden Stockwerk, und Schuhsohlen quietschten auf dem Fliesenboden.
    Pulaski steckte das Handy weg. Er hatte nicht daran gedacht, eine Ladestation mitzunehmen, die er an die Autobatterie anstecken konnte. Eigentlich hätte es ja nur ein kurzer Ausflug nach Göttingen werden sollen. Stattdessen hockte er jetzt an der Nordsee und wartete darauf, dass eine Sintflut über den Ort hereinbrach.
    Pulaski schreckte hoch. Er war kurz eingenickt. Die Wanduhr zeigte 23.05 Uhr. Das Klingeln der Fahrstuhlkabine hatte ihn geweckt.
    Ein hoch gewachsener Mann mit Schnauzbart, graumelierten Schläfen und einer Mappe unter dem Arm ging auf ihn zu. Offensichtlich kam er von draußen, denn sein Mantel war klitschnass. Pulaskis nächster Blick galt seinen Beinen. Der Mann humpelte nicht. Außerdem war sein Haar zu dicht.
    Pulaski erhob sich. »Doktor Vobelski?«
    Der Arzt nickte und reichte ihm die Hand. »Man sagte mir bereits, dass Sie mich sprechen wollen, aber es ging nicht eher. Ein Kollege wollte mich bei einer komplizierten Notoperation dabeihaben. Autounfall. Kommen Sie mit.« Er marschierte voraus. »Worum geht’s?«
    Pulaski folgte ihm den Gang entlang in ein Büro. Während er von den vier Kindern erzählte, die vor zehn Jahren von Vobelski behandelt worden waren, schlüpfte der aus dem Mantel, zog sich einen weißen Kittel über, schaltete die Kaffeemaschine ein und trocknete sein nasses Haar mit einem Handtuch.
    Als Pulaski endete, roch es in dem engen Raum nach frischem Kaffee.
    »Wollen Sie auch eine Tasse?«
    Pulaski wehrte ab. »Ich fürchte, ich habe im Gang den Automaten leergetrunken.«
    Vobelski zwinkerte schelmisch. »Keine Sorge, die Intensivstation ist gleich in der Nähe.« Lächelnd setzte er sich auf seinen Stuhl, rührte in der Tasse und starrte aus dem Fenster. Plötzlich wurde er ernst. »Ich erinnere mich an die Kinder. Es kommt nicht alle Tage vor, dass vier Minderjährige eingeliefert werden, die bis über beide Ohren mit LSD abgefüllt sind und noch dazu diese schrecklichen Wunden am Körper aufweisen. Wir hatten noch nie so viele Kripobeamte im Haus wie damals. Außerdem war es mein letzter Monat auf der Intensivstation. Ein heftiger Abschied, der einem lange in Erinnerung bleibt. Danach war ich zwei Wochen im Urlaub und wechselte anschließend zur Inneren Medizin.« Er warf Pulaski einen prüfenden Blick zu. »Deswegen kommen Sie von Leipzig hierher?«
    »Nachdem Sie die Kinder erstversorgt hatten, wurden zwei in die Psychiatrie Markkleeberg bei Leipzig überwiesen, die anderen beiden kamen in die Psychiatrie Herberhausen bei Göttingen.«
    »Ich weiß, nach meinem Urlaub musste ich für einige der Kinder ein Gutachten verfassen. Eines der Mädchen war ein ziemlich komplizierter Fall, da sie kein Wort sprach und niemand wusste, woher sie stammte. Es war schrecklich …«
    »Natascha Sommer«, unterbrach Pulaski ihn. »So wurde sie genannt. Möglicherweise kam sie aus der Ukraine. Bis heute wissen wir nicht, wer sie tatsächlich war.«
    »War?« Der Arzt blickte auf. »Wie geht es ihr?«
    »Sie und zwei weitere Jugendliche von damals sind tot. Die vierte Person schwebt in Lebensgefahr.«
    »Oh, mein Gott.« Vobelski schien tatsächlich schockiert. »Wird die Sache neu aufgerollt?«
    »Ich versuche es. Deswegen bin ich hier. Woran können Sie sich erinnern?«
    Der Arzt lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Gütiger Himmel, das ist so lange her … die Kinder wurden in Abständen von wenigen Tagen auf einer Strecke von mehreren Kilometern in verschiedenen Küstendörfern an der Nordsee aufgefunden. Eines der Kinder wurde sogar von einem Fischer in einem alten, klapprigen Kastenwagen hergebracht. Sie waren nackt, völlig ausgehungert, vollgepumpt mit Drogen, und ihre Körper wiesen schreckliche Misshandlungen auf. Jemand musste sie so gequält haben, dass sie kurz davor

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