Rachesommer
waren zu sterben.« Vobelski öffnete die Augen. »Von ähnlichen Fällen habe ich bisher nur aus der Küstengegend von Frankreich und Griechenland gehört. Das war einige Jahre vorher. Aber keines der Ereignisse wurde jemals aufgeklärt.«
Pulaski ließ die Schultern sinken. »Fand die Kripo seinerzeit nichts heraus?«
»Soviel ich weiß, deckte nie jemand auf, wie die Kinder an den Strand gekommen waren. Die Kripo hat monatelang sämtliche Küstendörfer ergebnislos abgeklappert.« Vobelski nippte an dem Kaffee. »Ich erinnere mich bloß noch daran, dass die meisten der Kinder fast zeitgleich zu Waisen geworden waren und kurz darauf für einige Monate von der Bildfläche verschwanden … und plötzlich tauchten sie am Strand wieder auf. Komplett orientierungslos, geistig abwesend und mehr tot als lebendig. Zumindest stand das in der Zeitung.«
»Sonst noch etwas?«
»Ich fürchte nein.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Die Zeitungen schrieben noch einige Wochen darüber, aber es war immer wieder die gleiche Schlagzeile: Die vier Waisenkinder und das unbekannte Straßenkind…«
»Moment!« Pulaski fuhr im Stuhl hoch. »Was sagten Sie eben?«
Vobelski richtete sich ebenfalls auf. »Ja richtig, ich erinnere mich wieder. Es waren nicht bloß vier.«
Pulaskis Puls beschleunigte sich. »Es gab ein fünftes Kind?«
48
»Sie war hier?«, wiederholte Evelyn. Unwillkürlich klammerte sie sich an die Couchlehne. Plötzlich hatte sie den Eindruck, als säße sie nicht in einem verrosteten Wohnmobil, sondern in der Kombüse eines Schiffes. Alles drehte sich um sie.
»Vor etwa zwei Monaten«, antwortete Smolle.
»Wie sah sie aus?«
Über das Gesicht des ehemaligen Kapitäns huschte ein wehmütiges Lächeln. »Hübsch. Ein zierliches Gesicht, fröhliches Wesen, als wäre ihr nie etwas Schlimmes widerfahren.«
Hastig öffnete Evelyn die Handtasche und kramte das Phantombild und das Foto von der Kamera des Geldautomaten hervor.
»Ist sie das?«
Smolle nahm das Foto, hielt es sich in einiger Entfernung vor die Augen und betrachtete das Mädchen im Spaghettiträgerkleid. »Zweifellos.«
»Auf beiden Bildern?«
Smolle sah auf die Phantomzeichnung und nickte. »Das ist Lisa.«
»Lisa!« Endlich hatte sie einen Namen zu dem Gesicht! »Was wollte sie von Ihnen?«
»Können Sie sich das nicht denken?« Smolles Unterlippe bebte. »Sie klopfte eines Nachts an die Wohnwagentür. Trug fast nichts am Körper und war völlig durchnässt. Es regnete, wie heute. Gab ihr zu essen und zu trinken. Sie saß in eine Decke gehüllt da - wie Sie - und war so blass wie die Schaumkronen des Meeres. Wirkte unglaublich dünn und zerbrechlich, hatte aber eine einnehmende Persönlichkeit. Allerdings jagte mir ihr Blick einen Schauer über den Rücken. Sie kannte meinen Namen, und ich ahnte, dass sie nicht zufällig an meine Tür geklopft hatte.«
Ein verästelter Blitz ging über dem Meer nieder. Evelyn spürte förmlich die Elektrizität in der Luft.
Smolle starrte ebenfalls aus dem Fenster. »Als sie meinen verbrannten Unterarm bemerkte, zuckte sie für einen Moment zurück. Da wusste ich, woher sie mich kannte. Im gleichen Atemzug war das Versteckspiel vorbei. Sie sagte nur: Friedberg. Und stellte dann bloß eine Frage: >Wer hat die Kreuzfahrt organisiert?<«
»Hockinson«, entfuhr es Evelyn.
Smolle nickte. »Edward Hockinson. Im nächsten Moment war sie durch die Tür verschwunden. Ich lief ihr nach, doch ich verlor sie im Regen … seitdem habe ich sie weder gesehen noch von ihr gehört.« Smolle musterte Evelyn. »Woran denken Sie?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig.« Der Airbag-Fall war ihr in den Sinn gekommen. Sie dachte an Prange. Er war vor etwa zwei Monaten in den Berchtesgadener Alpen verunglückt. Möglicherweise hatte Smolle in jener Nacht alles ins Rollen gebracht. Doch warum ausgerechnet zu dieser Zeit? Zehn Jahre danach?
»Geht es Ihnen nicht gut?« Smolles Stimme klang besorgt.
»Ich war auf vieles vorbereitet, aber nicht darauf.«
Smolles Stimme wurde leiser. »Hab seit zehn Jahren mit keiner Menschenseele über die Ereignisse von damals gesprochen. Monatelang hab ich alle Zeitungen nach einer bestimmten Meldung durchgesehen, doch die Dünen haben das Geheimnis des Jungen bis heute nicht preisgegeben. Ich hätte geredet, wenn mich die Polizei jemals zu den Vorkommnissen befragt hätte. Doch so weit ist es nie gekommen. Es stand nur etwas über das Mädchen in der Zeitung. Landete in der
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