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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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letzten Stunden vergossen hatte, brannten ihre entzündeten Augen, als wäre ihre Netzhaut mit Seife in Berührung gekommen.
    Mittlerweile war es drei Uhr morgens. Draußen war es stockdunkel. Hin und wieder erhellte ein weit entfernter Blitz die Landschaff. Der Donner war kaum noch zu hören. Stattdessen begannen hinter Evelyns Schläfen leichte Kopfschmerzen zu pochen, die immer aufdringlicher wurden. Sie starrte abwechselnd zur Toilettentür und zum verschmutzten Fenster der Wartehalle. Ihr Leihwagen stand auf dem Parkplatz im Regen. Im Audi zu sitzen wäre sicherlich bequemer gewesen, doch seit Stunden hatte sie permanent das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Aber sie würgte nie mehr als Magensäure herauf. Inzwischen hatte sie sich an den sauren Geschmack im Mund gewöhnt. Nur noch zwei Stunden, sagte sie sich. Um fünf Uhr früh ging der erste Autozug von der Insel zum Festland. In Niebüll würde sie ein Zimmer mieten, sich duschen und versuchen, ein Croissant zu essen oder zumindest eine Tasse Tee zu trinken.
    Auf dem Nebensitz lag ein Roman von Mary Higgins Clark.
    Evelyn hatte probiert, die ersten Kapitel zu lesen. Ablenkung. Normalerweise funktionierte es, diesmal aber nicht. Sie wusste nicht einmal, worum es in dem Buch ging, und hatte es nach zwanzig Seiten weggelegt. Immer wieder sah sie Smolles Gesicht vor Augen, das sie an ihre nutzlosen Bemühungen erinnerte, das Seil vom Deckenhaken neben dem Ofenrohr zu lösen. Schließlich hatte sie ihr Handy geschnappt, war in einer Kurzschlussreaktion aus dem Trailer gelaufen und mit dem Auto über die Küstenstraße nach Westerland gerast.
    Sie konnte sich nicht einmal erinnern, wie sie hergekommen war. Die letzten Stunden schienen wie ausgeblendet. Sie wusste nur, dass sie während der Fahrt mit Patrick telefoniert haben musste, und dann hatte auch schon dieser schreckliche Brechreiz begonnen. Kurz darauf war sie mit der Reisetasche in die Wartehalle gestolpert.
     
    Um vier Uhr morgens tauchte der erste helle Streifen am Horizont auf. Der Regen hatte aufgehört, aber Evelyn war immer noch kalt bis auf die Knochen. Zuerst hörte sie das Läuten ihres Handys gar nicht. Schließlich griff sie mit steifen Fingern nach dem Telefon und nahm das Gespräch entgegen. »Wie geht’s, Spitzmausigel?«
    Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sprich weiter, dachte sie. Es tut so gut, deine Stimme zu hören. Der Klang erinnerte sie an ihr Büro in Kragers Kanzlei, an ihren Chef, den Pitbull, an ihre Wohnung in Wien, ihre Nachbarin Tanja und deren Tochter Conny und an ihre beiden Katzen. Was gäbe sie nur darum, wenn sie jetzt auf ihrer Fernsehcouch sitzen und Bonnie und Clyde an sich drücken könnte! Wenn sie das Schnurren hören und ihr dichtes Fell streicheln könnte!
    »Lynnie, hörst du mich?«
    »Ja«, murmelte sie gedankenverloren. Sie musste sich unbedingt eine Packung Aspirin besorgen. »Kannst du mir einen Anwaltswitz erzählen?«
    Patrick schwieg. »Im Moment fällt mir keiner ein.« Seine Stimme klang müde.
    »Nicht so wichtig. Tut mir leid, dass ich dich die ganze Nacht auf Trab halte.«
    »Du sagtest doch, ich soll Tag und Nacht für dich erreichbar sein.«
    Sie sah ihn förmlich lächeln. Aber in ihrer Vorstellung war es ein trauriges Lächeln. »Was gibt es Neues?«, fragte sie.
    »Ich habe mit der Kripo in Flensburg telefoniert, den Beamten vom Nachtdienst erklärt, was ich weiß, und ihnen deine Daten durchgegeben. Vermutlich ist gerade ein Krankenwagen auf dem Weg zu Smolles Wohnmobil, um den Kerl von dem Strick zu schneiden. Im Morgengrauen werden die Beamten mit dem Hubschrauber in Wenningstedt eintreffen, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Die werden dich im Lauf des Tages anrufen. Du kannst deine Aussage auf dem Revier in Flensburg machen.«
    »Danke, Patrick.«
    »Kein Problem. Ich an deiner Stelle hätte vermutlich genauso gehandelt und wäre abgehauen.«
    Sie wusste, dass er log. Aber das spielte keine Rolle. Er versuchte, nett zu sein.
    »Willst du wissen, was ich gestern noch rausgefunden habe, nachdem du mir die Liste gefaxt hast?«, fragte er nach einer Weile.
    Waren seine Recherchen überhaupt noch von Interesse? Sie hatte nicht verhindern können, dass sich ein Mann erhängt hatte. »Evelyn?«
    »Ja.« Sie versuchte, sich zu erinnern. »Du sagtest etwas von brisantem Material.«
    »Genau. Die Liste mit den Namen. Hockinsons Gäste waren allesamt Ärzte, Politiker, Industrielle oder Rechtsanwälte«, erinnerte er

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