Rachespiel
Stattdessen fuhr sie zum Triton, einem Fünfsternehotel auf Dublins Südseite, denn so lautete die Anweisung der Person, die Presley entführt hatte. Eine SMS , die ihr mitteilte, wie sie ihren Sohn zurückbekommen konnte, war piepend auf ihrem Handy eingegangen, als sie sich noch an der Tankstelle aufgehalten hatte. Deshalb hatte sie Jo die Nummer ihrer Mutter gegeben – für den Fall, dass etwas Schlimmes passierte, bevor sie Presley wiederhatte. Tara lehnte die Stirn ans Seitenfenster. Die Nachricht hatte gelautet: »Wenn du deinen Sohn zurückhaben willst, komm zum Spa im Triton, dort warte ich auf dich. Bringst du jemanden mit, siehst du Presley in einem weißen Sarg wieder.«
Sie rieb sich die Augen mit den Handballen. Wer konnte sie nur so sehr hassen? Die Frage ging ihr ständig im Kopf herum. Es musste jemand sein, den sie kannte, da er oder sie ihre Privatnummer hatte. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie wusste nicht, was schlimmer war: der Gedanke, dass jemand aus ihrem Bekanntenkreis ihr so etwas antun wollte, oder die Vorstellung von ihrem kleinen Jungen bei fremden Menschen. Sie würde es nicht ertragen, wenn ihm etwas passierte. Er war so etwas wie ihr Talisman. Alles, was sie tat, tat sie für ihn …
Tara nahm ihr Smartphone. Sie hatte dem Kidnapper zurückgeschrieben, dass sie unterwegs sei, dass er gut auf Presley aufpassen solle, dass sie alles tun werde, was er verlangte, aber es war noch keine Antwort gekommen. Gott, was ihr in den letzten Tagen zugestoßen war, war schon schrecklich genug, aber obendrein auch noch Presley zu verlieren – sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen. Nein, solange sie Ruhe bewahrte und tat, was der Entführer sagte, würde alles gut werden.
Sie setzte sich gerade auf und versuchte, in den Rückspiegel vorne zu blicken. Sie musste gut aussehen. Aus ihrer Jackentasche fischte sie eine Tube Lipgloss und trug reichlich davon auf. Das Triton war das Tophotel für Berühmtheiten und Würdenträger, die auf Besuch in der Stadt waren. Jeder, der etwas galt, stieg dort ab, und der Manager sorgte dafür, dass die Presse rechtzeitig einen Tipp bekam, damit sie die ein und aus gehenden VIP s ablichten konnten. Tara hatte die Handynummern der Paparazzi ohnehin alle gespeichert. Sie rief sie meistens selbst an, damit sie wussten, wann sie ausging und mit wem. Sie kannte jeden Redaktionsschluss auswendig und hatte den von den Kameras »überraschten« Blick perfektioniert. So brachte man die Medien auf seine Seite. Und Medieninteresse bedeutete Arbeit. Die Werbeagenturen buchten nur Mädchen, deren Gesichter ihrem Produkt garantiert etwas Gratis-Publicity einbrachten.
Sie kämmte mit den Fingern die Enden ihrer Haarverlängerung und begegnete dem Blick des Fahrers im Spiegel. Er hatte diesen selbstzufriedenen Gesichtsausdruck, den sie nur zu gut kannte. Er bildete sich ein, sie würde sich für ihn schön machen. Das erinnerte sie wieder daran, wie die Männer sie gestern in Marrakesch angesehen hatten. Als wäre sie ein Nichts. Denk nicht daran, ermahnte sie sich. Du hast jetzt keine Zeit dafür. Presley braucht dich.
Sie betätigte den Fensterheber und wollte einen tiefen Zug frische Luft nehmen, aber ihr Mund war so trocken, dass sie nicht einmal schlucken konnte. Um sich zu beherrschen, weil die Verzweiflung sie zu überwältigen drohte, biss sie fest auf die Innenseite ihrer Wange, bis sie kupferiges Blut schmeckte. Könnte sie doch die Zeit zu diesen zwei Minuten in der Tankstelle zurückdrehen und Presley mit hineinnehmen, um das verdammte Benzin zu bezahlen. Oder zu dem Moment vordrehen, wenn er wieder bei ihr war …
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Wenn ihm etwas passiert wäre, würde sie das bestimmt mit dem sechsten Sinn einer Mutter spüren. Oder etwa nicht? Sie hatte Dinge in ihrem Leben getan, die sie noch bis ins Grab verfolgen würden, aber sie konnte alles aushalten, solange sie Presley hatte. So wie sie es sah, machte er das, was sie zu tun bereit war, um ihre Lage zu verbessern, geradezu achtbar, ehrenhaft. Ohne ihn war sie etwas völlig anderes.
Wenn sich herausstellt, dass Mick etwas damit zu tun hat, garantiere ich für nichts mehr , dachte sie. Vielleicht wollte er ihr auf diese Weise deutlich machen, dass er seinen Sohn öfter sehen wollte. Doch im Grunde wusste sie, dass Mick viel zu weichherzig war, um direkt oder indirekt an etwas derart Gemeinem beteiligt zu sein. Und selbst wenn, würde sie das inzwischen als ein Geschenk
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