Rachespiel
anderen Opfer hatten um die siebzig Kilo gewogen, während der Mann im Zeugenstand nach höchstens fünfundsechzig aussah, und obendrein hatte er eine schwerwiegende Behinderung: Sein rechter Arm endete am Ellbogen. Das Opfer war zwar ebenfalls dünn, wenn Jo auch argwöhnte, dass es seit dem Angriff stark abgenommen hatte, aber wie hätte dieser Mann mit nur einem vollständigen Arm so rasch über eine Toilettenkabine klettern sollen? Und es gab noch einen anderen entscheidenden Unterschied zwischen diesem Fall und den anderen drei. Dieses Opfer lebte …
Andererseits war es möglich, dass sein Beruf als Taxifahrer die Verbindung zwischen sämtlichen Opfern darstellte. Taxifahrer fuhren dorthin, wo Kundschaft wartete, und alle Frauen waren ein ganzes Stück von zu Hause weg gewesen, als sie umgebracht wurden. Vielleicht hatten sie ihn angehalten, oder er hatte sich als Fahrer angeboten.
Außerdem hatte sein Handicap ihn nicht daran gehindert, die spanische Studentin von einem Parkplatz zu verschleppen, einem öffentlichen Ort also. Er musste schon ziemlich viel Übung gehabt haben, um so dreist vorzugehen. Vielleicht war er doch ihr Mann.
Der Verteidiger des Angeklagten, der seine Daumen in die Armausschnitte einer Weste mit schwarzen Knöpfen gehakt hatte, stellte endlich eine Frage, an deren Antwort sie interessiert war.
»Haben Sie sie vergewaltigt?«
Jo reckte den Hals.
»Ja, beim ersten Mal«, antwortete der Angeklagte. »Aber die anderen Male wollte sie, dass ich mit ihr schlief.«
Die junge Frau schüttelte mehrmals schwach den Kopf.
Die beiden Leute neben ihr waren offensichtlich ihre Eltern. Die Mutter, eine Frau mittleren Alters mit den gleichen schwarzen Haaren, hielt die Hand des Mädchens, während der Mann, etwas älter, im Sonntagsanzug, den Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Es war ihnen anzusehen, wie sehr es sie frustrierte, ihre Version des Geschehens nicht zu Gehör bringen zu können. Ein Dolmetscher saß hinter ihnen und übersetzte flüsternd, was gesagt wurde.
Es brachte Jo immer wieder in Rage, dass Verbrechens opfer vor Gericht wie Bürger zweiter Klasse behandelt wur den. Sie wollte die Staatsanwältin – eine Frau mit langen dunklen Haaren und viel Make-up, die sich ständig Noti zen machte – mit Willenskraft dazu bringen, Einspruch zu erheben, doch die schien nicht einmal zu registrieren, was der Angeklagte gerade geäußert hatte.
Der Richter wirkte derweil, als würden ihm gleich die Augen zufallen. Wenn ein Nebenklagerecht für Kriminalitätsopfer bei Strafprozessen eingeführt würde, wie Justizminister Blaise Stanley es Jo zugesagt hatte, würden Szenen wie diese nicht mehr vorkommen.
»Sie sagen also, dass Anteile von Einverständnis vorhanden waren«, dirigierte der Verteidiger seinen Mandanten.
»Ja.«
»Das ist ein Haufen Lügen«, rief ein Mann, der hinter der spanischen Familie saß und aufgesprungen war. Sein Gesicht war hochrot, und er sah sehr jung aus. Wahrscheinlich der Freund der Studentin, vermutete Jo. »Dieses Schwein hat ihr aufgelauert!«
Der Richter beugte sich zu seinem Mikrofon. »Schaffen Sie diesen Mann hinaus, ehe ich ihn wegen Missachtung des Gerichts belangen muss.« Er deutete der vor ihm sitzenden Gerichtsbeamtin seine Absicht an, den Saal zu verlassen, bis die Ordnung wiederhergestellt war.
»Bitte erheben Sie sich«, verlautete die Beamtin.
Jo stand seufzend auf. Es war schlichtweg nicht möglich, dass die Opfer und deren Angehörige ihre Emotionen vor der Saaltür zurückließen, wie es das Rechtssystem von ihnen verlangte. Diese Tatsache hatte sie Blaise Stanley klarzumachen versucht. Doch wenn der Justizminister selbst in ein Verbrechen verwickelt war, wie es diese anonyme Botschaft nahelegte, die sie zusammen mit dem Sex video erhalten hatte, war es wenig verwunderlich, dass ihre Appelle auf taube Ohren stießen.
Jo schob sich seitwärts auf den Ausgang zu. Sie war froh, dass sie gekommen war, denn ihre Intuition sagte ihr, dass der Mann, der hier vor Gericht stand, nicht für ihre drei ungeklärten Fälle verantwortlich war. Aus welchem Grund hätte er dieses Opfer nicht ebenso umbringen sollen wie die anderen? Wurden Serienmörder nicht eher zunehmend brutaler als umgekehrt? Auch die Vorgehensweise war anders: Es war kein Messer benutzt worden, der Angeklagte hatte stattdessen versucht, die Studentin zu erwürgen. Jo merkte, dass sie sich jetzt mit George Hannah treffen konnte, ohne wie Dan, Sexton und Oakley von der Sorge
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