Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
Lena Lund wendete und zurück in die Stadt fuhr.
Erst als sie sich sicher sein konnte, dass weit und breit kein weißer Opel mehr zu sehen war, wagte sie sich zurück auf die Landstraße und machte sich auf zur Entzugsklinik, die wie ein großer roter Kasten am Ortsausgang von Odder lag.
Sie betätigte die Klingel an der Pforte und bat darum, mit dem Leiter der Klinik sprechen zu dürfen. Aber Thorkild Madsen, wie er hieß, befand sich in einer Besprechung. Sie wurde gebeten, das Sekretariat anzurufen und sich einen Termin geben zu lassen. Sie versuchte alles, um sich bei dem gesichtslosen Pförtnereinzuschmeicheln, aber es war, als würde sie mit einem Gefängniswärter um außerordentlichen Freigang verhandeln. Ihr wurde nicht geöffnet, und sie musste unverrichteter Dinge in die Redaktion zurückkehren.
Sie saß im Wohnzimmer und aß ihre Pizza, genehmigte sich ein Glas Rotwein und wünschte sich sehnlich, alle Erinnerung an die Explosion im Solarium ausradieren zu können. Es fühlte sich an, als wäre alles danach aus dem Ruder gelaufen. Als hätten die Detonation und Adda Boels Tod ihr Leben vollkommen verändert.
Dann zappte sie durch die Programme, dänische Kanäle, CNN, BBC und Sky News. In den USA war der Immobilienmarkt kollabiert, und die Aktien waren ins Bodenlose gestürzt. Auch die Auswirkungen auf den dänischen Aktienmarkt konnte man bereits absehen. Die Finanzwelt schien sich auf dem Weg in eine tiefe Rezession zu befinden. Die Menschen verloren hohe Prozentsätze ihrer Ersparnisse, es gab hohe Verluste bei den Rentenversicherungen und auf dem Wohnungsmarkt. Ein massiver Pessimismus zeichnete sich ab, und die ersten Selbstmorde wegen finanziellen Ruins wurden von
over there
gemeldet.
Im eigenen Land traf die Krise alle möglichen und unmöglichen Stellen. Handwerker, die sich bis vor kurzem ihre Aufträge hatten aussuchen können, standen plötzlich unter großem Druck. Vielleicht konnte sie unter diesen Umständen wenigstens den Preis für die Dachdeckerarbeiten ein bisschen nach unten drücken. So drehte sich das Karussell, und das alte Sprichwort »Des einen Tod ist des anderen Brot« gewann an Aktualität. Wo würde das alles enden? War das womöglich das Ende der Welt, wie man sie bisher gekannt hatte: das Spiel von Angebot und Nachfrage und Kapitalismus auf eigene Gefahr?
Sie saß im Sofa und erschauerte bei dem Gedanken. Ihre Hand streichelte Svendsen, der die ungeteilte Aufmerksamkeit genoss. Eine Stimme in ihr sagte, dass niemand von dieser Krise unberührtbleiben werde. Bald schon werde sie ihre Fangarme in jeden Winkel dieser Welt ausgestreckt haben, und alle müssten sich mit Konsequenzen auseinandersetzen, die niemand für möglich gehalten hätte. Alle würden davon in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Talfahrt der Aktienmärkte würde sich bald zu der reellen Frage um Leben und Tod ausweiten, auch in Dänemark.
Sie hatte die Nachrichten übersprungen, die nur düstere Bilder vom Zustand der Welt zeichneten, und war bei der Sendung »Frag Charlie« auf dem dänischen Kanal TV2 hängengeblieben. Es war schon nach zehn Uhr, und sie fragte sich gerade, ob es nicht Zeit wäre, ins Bett zu gehen, als es an der Tür klingelte.
Svendsen, der in seinem Korb eingeschlafen war, wurde so davon überrumpelt, dass er erst beim zweiten Klingeln aufwachte und zu bellen anfing. Dabei hatten sich alle Haare auf seinem Rücken aufgestellt. Seine Alarmbereitschaft übertrug sich auf Dicte, und sie spürte eine Gänsehaut.
Sie löschte das Licht in der Küche, damit sie vom Küchenfenster unbemerkt den Eingangsbereich einsehen konnte. Unter dem Licht der Lampe stand eine Frau in einer langen schwarzen Jacke mit hochgeschlagenem Kragen. Zuerst konnte sie die Frau nicht erkennen, aber dann drehte sie sich ein Stück zur Seite, und Dicte erkannte die Prostituierte aus der Anholtsgade, der sie ihre Visitenkarte gegeben hatte.
Sie packte den Hund am Halsband und öffnete die Tür. Ihr Besuch hatte sich zwar bemüht, nur ein dezentes Make-up aufzulegen, trotzdem waren die Mascara verschmiert und ihre Augen rot.
»Hallo. Wollen Sie hereinkommen?«
Die Frau nickte. Svendsen schnüffelte an ihrer Jacke und fasste den Entschluss, dass er das Bellen einstellen konnte.
»Der tut nichts.«
»Ich heiße Miriam.«
»Kommen Sie rein, Miriam. Ich bin allein zu Hause.«
»Aber Sie haben doch den Hund.«
Miriam ließ Svendsen an ihren Händen und ihrer Jacke schnuppern.
»Er riecht
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