Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
mit leerem Blick hinauf ans Zeltdach.
Einen ganzen Tag. Sie hatten einen ganzen Tag zusammen verbracht. Er fühlte sich, als hätte ihn jemand stundenlang unter Wasser gedrückt, um ihn danach kopfüber an einem Baum aufzuhängen. Er war erschöpft, alle Glieder schmerzten, und er fühlte sich leer, Worte und auch Gedanken waren aufgebraucht.
Und sie lag nebenan in ihrem amateurhaft aufgebauten Zelt. Wahrscheinlich fror sie in dem Sommerschlafsack, mit dem er sie hatte kämpfen sehen, ohne wasserabweisenden Überzug und mit einer Isomatte, die so dünn war wie der Kaffee, den sie trank. Aber sie lag da. Und sie würde die Nacht über auch dort liegenbleiben. Sie war die Sturheit in Person.
Er rückte seinen Körper im Schlafsack zurecht und faltete die Hände im Nacken. Für einen kurzen Moment streifte ihn der Gedanke, zu beten. Einen Gruß in den Himmel schicken und darum bitten, dass dieser Alptraum bald ein Ende haben möge. Aber er glaubte an keinen Gott. Den Glauben hatte er gehabt, daran konnte er sich gut erinnern. Aber der hatte sich aufgelöst, war ihm entrissen worden, so, wie man eine Nuss knackt, aufbricht, ihren Inhalt isst und die Schale wegwirft. Die Strafen – »Pferd«, »Kiste« und »Ringe« – hatten ihn nicht gebrochen, aber sie hatten ihm den Glauben genommen. Auch den Glaubenan die Liebe. Und das wusste er mit Sicherheit: Liebe war nichts anderes als Macht, Macht und nochmals Macht. In den verschiedensten Formen und mit den unterschiedlichsten Gesichtern, selbstverständlich, denn sie war gerissen, diese Liebe. Wie auch ihre. Die seiner Mutter. Wie immer drehte sich alles immer nur um Macht.
Aber nie wieder sollte jemand das Vergnügen bekommen, Macht über ihn zu haben. Auch nicht, wenn sie noch so wohlmeinend war.
Er seufzte und wünschte sich, er würde unter freiem Himmel liegen und die Sterne sehen, allein oder mit einem Hund als Gesellschaft, der ihn wärmte. Was diese Frau reden konnte! Als würden für sie die Worte zur freien Verfügung stehen, um sie kreuz und quer miteinander zu verbinden. Er war eigentlich auch ganz gut darin, aber er besaß nicht ihre Ausdauer. Er wollte sie loswerden, aber sie folgte ihm auf Schritt und Tritt. Den Berg hinunter zum Internat, um Wasser zu holen, oder nach Ry, um die notwendigsten Besorgungen zu erledigen. Shit, am Ende hatten sie sogar ihren Wagen zum Einkauf in die Stadt genommen, weil er eingesehen hatte, dass er sie ohnehin nicht loswerden würde.
Sie dachte offensichtlich, ihm helfen zu können. Dass er es nicht selbst konnte. Letzteres war zwar durchaus im Bereich des Möglichen, aber eine Sache war ganz sicher: Er würde alles tun, damit er nicht in ihre Schuld geriet. Denn dann würde sie genau das bekommen, worauf sie aus war: Macht.
Ein bekanntes Gefühl stieg in ihm auf. Schon lange hatte er keinen Hass mehr empfunden. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass die Zeit des Hassens vorbei war, weil die Jahre in Horsens ihn gelehrt hatten, dass er zu nichts führte. Hass war für Amateure, solche wie Cato, die dem nichts entgegensetzen konnten. Aber vielleicht hatte Cato ja doch recht. Vielleicht war dieser Hass der notwendige Katalysator, die Energie, um seine Situation zu ändern.
Er musste etwas unternehmen.
Er kroch aus dem Schlafsack und zwängte sich durch die Zeltöffnung. Dann lauschte er. Aber sie schlief, da war er sich ganz sicher. Es war Viertel vor zwei, und der Tag war anstrengend gewesen, auch für sie.
Er sah hoch in den Himmel. Die Wolken hatten sich wieder versammelt und vor den Mond geschoben, der aber noch genügend Licht spendete. Er musste weg von hier, dachte er, und zwar sofort. Er musste einen Ort finden, an dem er ungestört nachdenken konnte. Danach wollte er My finden und sie zurückholen, damit er endlich Ordnung in sein Leben bringen konnte, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Aber dafür benötigte er keine Hilfe von anderen.
Vorsichtig schob er sich wieder ins Zelt und begann zu packen. Ganz zum Schluss, als alles schon verstaut war, rollte er das Zelt zusammen und befestigte es an seinem Rucksack. Dann warf er einen letzten Blick auf ihr Zelt und verdrängte den Gedanken, dass seine Mutter darin lag und schlief. Sie war nie eine Mutter für ihn gewesen und würde es auch jetzt nicht werden.
Dann machte er sich auf den Weg, tiefer in den Wald hinein.
KAPITEL 55
Francesca wurde vom Klingeln des Telefons wach und wusste, dass es nur schlechte Neuigkeiten sein konnten. Es konnte nicht
Weitere Kostenlose Bücher