Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
hauten ab.
Erleichterung breitete sich in ihm aus, er fühlte sich, als würde er schweben. Da wurde ihm klar, wie nervös er gewesen sein musste. Außerdem wurde ihm bewusst, dass jemand anderes ein hohes Risiko eingegangen war, um ihn zu schützen, und dass sie das ihm zuliebe getan hatte.
Aber das hasste er. Dankbarkeit schulden. Das hatte er im Gefängnis zu oft erleben müssen, wo jeder jedem etwas schuldete. Aber war das hier nicht doch anders?
Er wog das Für und Wider ab, während sein Körper, jeder Muskel, jede Sehne von einer Müdigkeit befallen wurden, die ihn ganz schwer machte.
Er hatte vorgehabt, es ganz allein zu machen, niemanden zu involvieren und schon gar nicht sie, seine Mutter. Allerdings hatte sie sich eingemischt. Sie hatte sich ihm zwar aufgedrängt, aber sie hatte ihm zuliebe auch einiges riskiert. Mit ruhiger und eiskalter Stimme hatte sie ihnen gesagt, dass sie mit einem richterlichen Beschluss wiederkommen müssten, bevor sie ihr Haus durchsuchen durften.
Er drehte den Kopf von dem Kletterrosenidyll vor dem Fenster weg. Dann übernahm das System, das ihn schon so oft gerettet hatte. Er begann zu zählen: die Holzplanken an der Decke; die Astlöcher in den unbehandelten Balken; die Lamellen der Gardine; die Bücher im Regal. Sie sind im Haus; Vater, Mutter und Kind. Sie sitzen in der Küche und spielen ein Spiel. Sie lachen und necken sich. Familie …
Er blieb stecken. Dann musste er an My denken und sah sie am Baum hängen, hasste sich für seine Sturheit. Da hörte er Miriams Stimme: Man tut, was man tut. Und das hat man nicht immer allein in der Hand.
Er war es so leid, wütend zu sein. Er war es leid, anderen die Schuld für sein erbärmliches Leben zu geben. Niemand hatte versprochen, dass es gerecht zuging in der Welt, und vielleicht hatte seine Mutter damals tatsächlich keine Wahl gehabt.
Miriams Stimme meldete sich ein zweites Mal zu Wort, obwohl er das nicht wollte: Man kann so vieles vergessen. Man kann vergessen, wie spät es ist, und man kann vergessen, zu essen und auf sich achtzugeben. Aber ein Kind, das vergisst man nie.
KAPITEL 67
»Haben Sie ihr gedroht?«
Lena Lund starrte aus der Windschutzscheibe, während Wagner den Wagen geschickt an den Baustellen im Zentrum von Århus vorbeisteuerte. Er meinte, ein kleines Lächeln in ihrem Mundwinkel zu sehen.
»Ich habe sie über die Konsequenzen aufgeklärt, die private Ermittlungen haben können.«
»Sie haben ihr also gedroht! Und die Geschichte mit Ihrer Schwester? Stimmt die?«
Er zweifelte keine Sekunde daran, wollte es aber unbedingt aus ihrem Mund hören. Er hatte auch keinen Zweifel mehr daran, dass Lena Lund von diesem Fall abgezogen werden musste,wusste aber nicht, wie er das bewerkstelligen sollte. Das würde nämlich zumindest ein Gespräch mit Hartvigsen erfordern, und das wollte er am liebsten verhindern.
»Sie versteckt ihn.«
»Das kann schon sein. Das wird sich zeigen. Aber Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet.«
Er war ratlos. Er war es einfach nicht gewohnt, dass Kollegen oder Untergebene ihre eigenen Regeln aufstellten. Bisher war es immer zuerst um den Fall gegangen. Der Fall hatte immer an erster Stelle gestanden.
Er spürte, wie sie auf dem Beifahrersitz alle Muskeln anspannte und dabei kerzengerade saß.
»Ich weiß nicht, was meine Vergangenheit mit diesem Fall zu tun haben sollte.«
Juristisch gesehen, hatte sie natürlich recht, solange sie nicht verurteilt worden war, was nicht der Fall sein konnte, weil sie sonst nicht dort sitzen würde. Aber Dicte Svendsens Beschuldigungen hatten Licht in die Geschichte gebracht, der er selbst auf der Spur gewesen war. Leider bestätigten sie seine schlimmsten Befürchtungen.
»Ich finde, Sie sollten mir die ganze Geschichte erzählen und mich dann entscheiden lassen, ob es etwas mit diesem Fall zu tun hat oder nicht.«
Er fuhr über die Kreuzung bei der Søndergade, wo die Fußgänger unruhig an der Ampel standen und auf Grün warteten.
»Was Dicte Svendsen angeht, übernehme ich ab jetzt.«
Sie schnaubte.
»Sie beschützen sie. Sie ist schuldig, dass es zum Himmel stinkt.«
Erneut sah er sich gezwungen, die beiden Frauen zu vergleichen. Dicte Svendsen hatte in der Vergangenheit ebenso viel Hiebe wie Lob erhalten. Sie war mehr als einmal durch die Mühlen der Pressemaschinerie gedreht worden, weil sie sowohl ethische als auch juristische Grenzen überschritten hatte beiihrer Jagd nach Verbrechern und der Aufklärung von
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