Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
fehlte nur noch ein Jagdhund an seiner Seite.
»Jørgen Thomsen. Der wohnt dort drüben in dem roten Haus. Neben der Schule.«
Er streckte den Arm aus. Sie sah zwei Männer auf einemHausdach. Sie bedankte sich, ließ den Wagen stehen und lief quer über den Kirchplatz auf das rote Haus zu.
Dort angekommen, drehte sie sich um und warf einen Blick auf die Kirche, den Pfarrhof und den Mann der Pfarrerin, der ihr nachgesehen hatte.
Sie blieb einen Augenblick still stehen, sog den Geruch des Herbstes ein und versuchte, den Ort zu erspüren. Auf der einen Seite befand sich das Licht, die Helligkeit, von der anderen Seite drängte die Dunkelheit. Hinter der Stadt erstreckte sich der Wald mit seinen Schatten und schien die Häuser förmlich vor sich her an die Küste zu schieben. Und plötzlich wusste sie, dass er hier gelebt hatte. An diesem Ort, gefangen zwischen Licht und Dunkelheit, dass er sich hier zu hause gefühlt hatte. Bis zu dem Tag, an dem etwas geschehen war, das sein ganzes Leben verändert hatte.
Auf dem Dach war ein Poltern zu hören. Einer der Männer saß rittlings auf dem First, der andere stand ganz oben auf einer Leiter und arbeitete ihm zu. Aber er bemerkte sie.
»Sind Sie Manfred?«
Der Mann nickte zu seinem Kollegen auf dem Dachfirst.
»Er sitzt da oben. So ist er näher bei Gott. MANfred«, schrie er, und Manfred sah nach unten. »Hier will jemand mit dir sprechen.«
Manfred hatte etwas im Mund und einen Hammer in der Hand, er gestikulierte wild und deutete an, dass er gleich kommen würde. Er war ein kleiner Mann; flink wie ein Eichhörnchen kletterte er vom First, fand die Sprossen der Leiter, und schon stand er vor ihr auf dem Boden.
Dicte verlor keine Zeit und wiederholte ihre Anfrage von vorhin. Manfred stand einen Augenblick reglos da, als müsse er seine Antwort abwägen.
»Sehen Sie das da hinten?«
Er nickte in Richtung Küste und Licht. »Er hat an der Steilküste gewohnt, in einem alten Fischerhaus, das er billig gekauft hatte und das eine liebevolle Hand brauchte.«
Er sah sie an. »Und das hat es von ihm bekommen. Eine liebevolle Hand. Etwas, was er bestimmt selbst nie erfahren hatte.«
Dicte ignorierte den Stachel, der sich in ihr Herz bohrte.
»Und er hat also für Sie gearbeitet? Wann war das denn?«
»Ja, er hat ein paar Jahre für mich gearbeitet, ehe er in den Knast ging. Das muss 2002 gewesen sein, oder so. Er hatte gerade seine Ausbildung beendet, ein Jahr in einem Betrieb gearbeitet und sich was für eine Anzahlung zusammengespart.«
»War er dort allein?«
»Ab und zu habe ich ein Mädchen gesehen, ich kann mich aber nicht an ihren Namen erinnern. Ich glaube aber nicht, dass sie ein Liebespaar waren, sie wirkte auf mich eher, wie eine, die nicht alleine klarkam. Da stimmte irgendwas mit ihrem Bein nicht.«
»Inwiefern? Hat sie gehumpelt?«
Er schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Nein, eher so, als würde sie es nicht unter Kontrolle haben.«
»Wissen Sie, woher sie kam?«
»Nein. Sie hat auch nie viel gesagt, war ziemlich schüchtern. Ich habe sie seitdem auch nie wieder gesehen.«
Dicte war überrascht von den verschiedenen Zügen ihres Sohnes. Ein schüchternes Mädchen mit einem zuckenden Bein. Das klang, als hätte er sich um eine Hilfsbedürftige gekümmert. Oder war es in Wirklichkeit andersherum?
»Wer wohnt denn jetzt in dem Haus?«
Manfred zuckte mit den Schultern.
»Niemand, soweit ich weiß. Ich bin schon lange nicht mehr da gewesen. Es liegt auch ziemlich abseits der Straße.«
»Ein Fischerhaus, haben Sie gesagt?«
»Sie können es gar nicht verfehlen. Es liegt in zweiter Reihe, davor stehen zwei Fachwerkhäuser. Er hat sich eine Dachgaube gebaut, die ist grau gestrichen. Und das Haus ist gelb.«
Manfred kratzte sich mit dem Hammer am Kinn.
»Das ist echt ein hübsches Häuschen gewesen.«
Sie fuhr einfach auf das Licht und die Helligkeit zu, und plötzlich lag das Meer vor ihr, die Bucht unterhalb von Djursland im Nordosten, die Stadt und den Wald im Rücken. Das Wasser sah blass und glatt aus, aber sie konnte sich vorstellen, wie der Wind an seiner Oberfläche zupfte und die Schiffe sich durch die Wellen kämpften. Weit draußen sah sie einen Frachter, der auf Reede lag und auf den nächsten Auftrag wartete. Die Steilküste erhob sich direkt hinter dem Strand. Sie folgte einem schlammigen Feldweg, der die grünen Felder mit Präzision zerteilte. Die Wege hier hießen Lunkærvej, Noldervej und Resækvej und klangen so ganz
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