Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
ihn.«
»Aus Ry damals? Oder von später?«
»Laila und ich sind Kolleginnen. Gute Kolleginnen.«
»Da bin ich mir ganz sicher. Und ich verspreche Ihnen, dass das hier unter uns bleibt.«
»Sie hat mir gesagt, dass sie gemeinsame Bekannte haben.«
»Aus der Schulzeit?«
»Auch von heute.«
Die Nervosität in ihrer Stimme wurde immer deutlicher. Sie fing an zu zittern, und Dicte hörte das Knipsen des Feuerzeugs und das Geräusch von Rauch, der eingesogen wird.
»Sie haben das nicht von mir, okay? Es ist in der Anholtsgade. Aber die genaue Adresse habe ich nicht.«
»Ein Bordell?«
Das folgende Schweigen deutete sie als Bestätigung.
»Ich muss los, Mogens braucht sein Insulin.«
Es klickte in der Leitung, bevor sich Dicte bedanken konnte.
KAPITEL 43
»Meine Fresse, ihr seid doch krank.«
Bevor sie reagieren konnten, hatte Alexander die Tür mit einer Wucht hinter sich zugeworfen, wie es in letzter Zeit seine Art war. Ida Marie zuckte zusammen. Wagner legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Er meint es nicht so … Er hat es auch schwer im Moment.« Ida Marie stand auf und begann die Teller in die Küche zu tragen. Wagner folgte ihr mit den Cornflakes und dem leeren Milchkarton.
»Das ist ja auch nicht normal, das verstehe ich schon«, sagte Ida Marie mit dem Rücken zu ihm, während sie das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine einräumte. Der sechsjährige Martin blieb am Esstisch sitzen und mampfte eine Banane. »In seinen Augen sind wir nur zwei alte Knacker, die jetzt auch noch ein Kind bekommen und ihn zum zweiten Mal zum großen Bruder machen. Damit hat er einfach nicht gerechnet.«
»Normal! Was ist schon normal?«
Sie richtete sich auf, sah ihn an und legte eine Hand auf ihren Bauch.
»Normal ist, wenn das Screening ergibt, dass dem Baby nichts fehlt. Normal ist es, wenn der eigene Sohn nicht beim Diebstahl erwischt wird. Normal ist, wenn man nicht haarscharf einemBombenanschlag auf ein Solarium entgeht und wenn der eigene Mann sich nicht unentwegt mit dem Tod und dem Unglück anderer Menschen beschäftigt.«
Sie drehte sich um und klapperte mit den Gläsern, die sie noch in die ziemlich volle Spülmaschine zu stellen versuchte.
»Normal ist auch, wenn sich ein Elternpaar auf die bevorstehende Geburt seines Kindes freut.«
»Wir freuen uns doch.«
»Ich tue das. Du auch?«
Tat er es etwa nicht? Doch, natürlich freute er sich. Das war schließlich die normale Reaktion.
»Es ist ja auch eine große Verantwortung«, wandte er ein und wusste, dass es falsch klang. »Es geht doch darum, alles richtig zu machen«, fügte er hilflos hinzu. »Heutzutage ist es ja fast wie eine Wissenschaft.«
Zu seiner großen Erleichterung wurde sie nicht wütend. Stattdessen kam sie zu ihm und umarmte ihn, da merkte er, wie sehr er das vermisst hatte.
»Du bist ein guter Vater«, sagte sie. »Gut und liebevoll.«
»Aber nicht gut genug!«, murmelte er.
»Was ist schon genug? Es genügt doch nie. Es ist eine niemals endende, grenzenlose Aufgabe, aber das ist doch gerade das Schöne daran, Kinder zu haben. Grenzenlose Liebe. Grenzenlose Verantwortung. Grenzenloser Kummer. Grenzenlose Freude.«
Er hielt sie fest im Arm, spürte ihren Herzschlag, dachte daran, dass sie jetzt zu zweit war. Zum ersten Mal seit dem Schock war er erfüllt von Zärtlichkeit und Dankbarkeit. Zum ersten Mal konnte er das Kind vor sich sehen und sich den Tag vorstellen, an dem er es in seinen Armen hielt. So ein kleines, warmes Etwas, das so rein und wunderbar roch. Sie hatten lange gedacht, dass ihnen dieses gemeinsame Glück vergönnt war.
»Grenzenloses Glück!«, murmelte er, das Gesicht in ihren Haaren vergraben.
Auf dem Weg ins Präsidium arbeitete es in seinem Kopf. Krank und normal. Die beiden Begriffe tanzten durch seine Gedanken. Krank und normal. Als hätte ihn jemand an den Haken genommen und würde ihn nicht mehr loslassen. Was war das für eine Gesellschaft, die ihre Bevölkerung in diese Kategorien einteilte? Er hatte das Gefühl, dass durch das Leben ein alles teilender Graben ging. Die an der Macht definierten, was normal war und was nicht. Kinder mussten sich in der Schule Spezialuntersuchungen unterziehen und bekamen danach unter Umständen schon im frühen Alter das Prädikat »unnormal« aufgedrückt. Andere erhielten Diagnosen wie: ADHS, Autismus, Asperger-Syndrom oder Zwangsstörung. Er kannte das alles, weil einige Freunde seiner Kinder einfach mit so einer Aussage konfrontiert worden waren, wie
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