Rachmann, Tom
schafft sie nicht. Sie steht halb auf,
lässt die Kieferknochen auf ein freundliches Lächeln einrasten und langt hoch
zur Gepäckablage. »Ich muss da mal eben dran.«
Er springt
auf, wirft sein Buch auf den Sitz und lässt sie vorbei.
Sie
quetscht sich mit Mühe durch zum Gang.
»Kann ich
irgendwie behilflich sein?«
Es
passiert in zwei Schüben. Erstens, er kommt ihr bekannt vor. Zweitens, ihr
wird klar, dass sie ihn tatsächlich kennt. Du lieber Himmel. Ein Albtraum.
»Ach, Gott«, sagt sie, »hallo. Ich hab Sie absolut nicht erkannt.« Sie weiß
auch jetzt noch nicht, wer er ist.
»Sie haben
nicht gemerkt, dass ich das bin?«
»Entschuldigung.
Ich war total daneben. Ich bin beim Fliegen immer in meiner eigenen kleinen
Welt.«
»Ist doch
gar kein Thema. Soll ich was runterholen?«
Jetzt
macht es Klick in ihrem Hirn: Dave Belling.
Am
liebsten würde sie auf der Stelle tot umfallen. Ausgerechnet dieser
Redaktionstisch-Dave. Der frisch gefeuerte Dave. Der eingesparte Kostenfaktor
Dave. Der Dave, dessen Rausschmiss sie angeordnet hat. Elf Stunden neben ihm.
Und, noch schlimmer, er hat sie in ihrem Reiseoutfit ertappt, Trainingshose,
Haare zu Zöpfchen geflochten. (In der Zeitung kennen sie sie nur in
Businessklamotten, mit Augen kalt wie Münzen.) Henry würde sagen: che figura di merda.
»Ich
komme, glaube ich, selbst dran«, sagt sie. »Aber vielen Dank.« Sie kommt leider
doch nicht dran. Ihre Ohren glühen inzwischen. »Die blaue Tasche da. Nein, die
dunkelblaue. Hopp. Ja. Die. Toll. Danke. Vielen Dank.«
Er tritt
galant zur Seite, um sie wieder auf ihren Platz zu lassen.
Sie setzt sich
mit einem feinen Lächeln und dem Magen voll Blei. »Tut mir leid, wenn ich
vorhin unhöflich gewirkt habe. Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass Sie es
sind.« Hör auf zu quasseln. »Und? Wie geht's so? Was geht ab? Wo geht's hin?«
Wo es hingeht? Er sitzt im Flieger nach Atlanta. Wie's ihm geht? Er ist gerade
gefeuert worden.
»Gut, echt
gut«, sagt er.
»Toll, das
ist toll.«
»Und
selber?«
»Gut, gut.
Auf dem Weg nach Atlanta - logisch. Ich muss zu dieser Sitzung beim
Ott-Vorstand. Unsere Jahresbilanz.«
»Und das
müssen Sie machen?«
»Leider
ja. Unser umnachteter Verleger weigert sich ja.«
»Also
kriegen Sie den Kladderadatsch.«
»Tja, ja.
Ganz recht, dazu bin ich da. Obwohl ich zugeben muss, in die Zentrale zu
fahren ist ganz interessant. Wir neigen ja in Rom alle dazu, uns für den
Mittelpunkt der Ott-Welt zu halten. Und so ein Besuch in Atlanta rückt dann
alles in die richtige Perspektive. Dass wir einfach winzig sind.«
»>Wir<
stimmt nicht mehr ganz«, sagt er gutmütig. »Jedenfalls für mich nicht.«
»Ja, ja, stimmt
ja. Sorry.«
»In der
Zeitung hat sich nichts mehr bewegt, deshalb, fand ich, ist es Zeit zu gehen.«
Er darf auf keinen Fall erfahren, dass sie die Wahrheit kennt. Und was
wichtiger ist, er darf nichts erfahren von ihrer Rolle bei seiner Entlassung.
»Klingt sehr vernünftig«, sagt sie, um die Schweigepause zu füllen, »was lesen
Sie da gerade?«
Er zieht
das Taschenbuch unterm Hintern hervor und hält es ihr hin.
»Ach, guck
an«, sagt sie, »ich bin totaler Jane-Austen-Fan.«
»Ach ja?«
»>Persuasion<
habe ich zwar nicht gelesen«, sagt sie, »aber >Stolz und Vorurteil< ist
wahrscheinlich - nein, ganz sicher - mein Lieblingsbuch aller Zeiten. Ich
versuche immer, meine Mädchen zum Lesen zu überreden, aber ich glaube, die sind
noch ein bisschen zu jung dafür.«
»Wie alt?«
»Zehn und
elf.«
»Ich hatte
bis vor ein paar Monaten keine Zeile von Jane Austen gelesen«, sagt er. »Aber
inzwischen habe ich mir selber so, ja, 'ne Art Leseauftrag erteilt, für alles,
was sie je geschrieben hat. Ist ja jetzt auch nicht so viel. Das hier ist das
letzte auf meiner Liste.« Er betrachtet das Cover. »Der Titel ist eigentlich
nicht von ihr - sie war ja schon tot, als es rauskam. Der Verleger hat es
>Persuasion< genannt.«
»Ist aber
klasse, der Titel.«
»Ja,
nicht?«
»Welches
ist Ihr Lieblingsbuch?«
»>Mansfield
Park< vielleicht. Vielleicht auch >Stolz und Vorurteil<. Das einzige,
womit ich nichts anfangen konnte, ist >Verstand und Gefühl<.«
»Ich kenne
ehrlich gesagt nur >Stolz und Vorurteil<.«
»Ich
denke, sie ist Ihre Lieblingsschriftstellerin.«
»Ja, ja,
schon. Aber ich bin keine gute Leserin. Drei Kinder. Der Job.«
»Drei
Kinder?« Er schneidet eine Grimasse. »Was soll das denn heißen?«
»Nichts,
ich bin nur schwer beeindruckt. Sie sehen zu jung aus
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