Rachmann, Tom
für drei Kinder.«
»Wohl
wahr. So jung bin ich aber gar nicht. Na, egal. Entschuldigung, ich wollte Sie
nicht vom Lesen abhalten.«
»Kein
Thema, im Ernst - ist doch gut, wenn man mal Gelegenheit zum Reden kriegt. In
der Redaktion redet ja kein Mensch. Ist Ihnen das mal aufgefallen? War das
Bizarrste für mich - als ich da hinkam, dachte ich, gibt's hier so was wie 'ne
Clique oder rieche ich schlecht oder so was? Da ist eine richtige
Grabesstille.«
»Genau, so
ist die Zeitung.«
»Man
kriegt praktisch das Gefühl, alle hassen einen.«
»Genau das
Gefühl habe ich da auch die ganze Zeit.« Die Kollegen haben nicht einmal so
viel Achtung, sie mit ihrem Namen anzureden, sie ist immer nur »Miss Buchhaltung«.
Sie hasst diesen Spitznamen. Die können einfach nicht haben, dass sie jung ist
und eine Frau und weiter oben in der Nahrungskette. Dabei sorgt sie dafür, dass
sie ihren Job behalten. Diese Typen - alles bloß bessere Stenografen, die
einen dauernd belehren über Presse und vierte Gewalt, als ginge es bei der
Zeitung um mehr als Business. Nicht, wenn wir so viel Geld verlieren. Und erst
der Weltmeister aller Oberlehrer, dieser unausstehliche Herman Cohen, leitet
pausenlos Artikel an sie weiter, »Wie Erbsenzähler die Medien ruinieren« und
so was. Als ob sie den Laden in den Ruin treiben würde. Er war es doch, der den
Aufbau einer eigenen Website blockiert hat. Wir haben doch hier und heute immer
noch keine Internetpräsenz! Aber über so was denken die Leute, die sie Miss
Buchhaltung nennen, ja nicht nach. Die denken auch nicht nach darüber, wie viel
Geld die Zeitung jedes Mal einbüßt, wenn sie den Redaktionsschluss überziehen (43 000 Euro bis jetzt allein in diesem Jahr). Oder wie sehr sie
gegen Entlassungen gekämpft hat (sie hat den Ott-Vorstand von sechzehn auf
neun Stellen runtergehandelt, und davon nur eine in der Redaktion). Ohne sie
säße die gesamte Belegschaft in einem Monat auf der Straße. Und die ziehen
über sie her.
»Das ist
wirklich traurig«, fährt sie fort. »Es braucht einen Interkontinentalflug, um
sich mal mit jemandem aus demselben Betrieb auszutauschen.«
»Naja,
einmal haben wir schon miteinander geredet, als ich anfing.«
»Stimmt,
bei meinem Willkommen-an-Bord-Gespräch. War ich sehr zickig?«
»Hätte
schlimmer sein können.«
»Oh nein!
Wirklich?«
»War 'n
Scherz. Nein, Sie waren scheinbar nur sehr beschäftigt.«
»Bin ich
immer. Sehr, sehr beschäftigt. Der Vorstand macht kein Geld für eine Sekretärin
locker. Warum sollte er auch, mal unter uns? Ich arbeite doch für drei. Aber
ich bin ja selber schuld. Entschuldigung, ich sollte mich zurückhalten. Und
Entschuldigung noch nachträglich dafür, dass ich damals so 'n bisschen, Sie
wissen schon, war. Einfach ein komisches Klima da manchmal, na, das wissen Sie
ja.« Sie rückt zu ihm herum. »Also, Sie lesen gern?«
Er
blättert in seinem Taschenbuch herum. »Wenn ich kann.« Dann legt er es
aufgeklappt auf seinem Oberschenkel ab.
»Spreizen
Sie's lieber nicht so auf.«
»Wie -
so?«
»Nicht so
stark auseinanderbiegen. Davon bricht der Rücken.«
»Ist mir
egal.«
»Entschuldigung.
Ich mache schon wieder Vorschriften. Ich lasse Sie lieber lesen.«
»Keine
Sorge.«
»Ich
müsste selbst auch mal was arbeiten.« Sie will den Tisch vor sich aufklappen,
zögert aber. Steht in den Unterlagen womöglich irgendetwas über Dave?
Irgendetwas, das er nicht sehen darf? Sie drückt die Mappe einen Spaltbreit
auf, zieht ein paar unverfängliche Seiten heraus und studiert sie verstohlen.
Er blättert gerade um. Er scheint in sein Buch versunken und nicht im
Entferntesten scharf drauf zu sein, heimlich in ihre langweiligen Tabellen zu
gucken. Auf welcher Seite ist er gerade? Dreiundachtzig. Sie tut, als ob sie
in den Papieren kramte, setzt hier und da ein sinnloses Häkchen dran, aber in
Wirklichkeit blickt sie ihm über die Schulter und liest mit in >Persuasion<.
Er blättert wieder um. Er liest schneller als sie. Das ist wirklich zu dumm.
War aber zu erwarten - er weiß ja schon, worum's in der Geschichte geht. Sie
raschelt noch ein paarmal demonstrativ mit ihren Papieren. Er blättert wieder
um, hält hörbar den Atem an und klappt das Buch ganz weit auseinander, so dass
sie beide lesen können. Noch mal ertappt. Mit glühenden Ohren macht sie sich
wieder an ihre Arbeit.
»Macht
süchtig, was?«, sagt er freundlich.
»Eine
schreckliche Angewohnheit von mir. Sorry.«
»Ach was,
Quatsch. Hier. Bitte.« Er legt das
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