Rachmann, Tom
wird erst philosophisch und am Ende rührselig. Sie guckt die
Sitzreihen in der Wartezone durch: aneinandergeschmiegte junge Pärchen, alte
Ehemänner über Büchern von alten Kriegen, Liebende am selben Paar Kopfhörer,
Gewisper über Dutyfree-Einkäufe und Verspätungen.
Sie geht
an Bord, setzt sich und betet, der Flieger möge nicht voll werden. Der Flug von
Rom nach Atlanta dauert elf Stunden, und sie möchte sich irgendwann ausstrecken
- sie will arbeiten und schlafen, in dieser Reihenfolge. Aus dem Augenwinkel
bemerkt sie einen Mann, der neben ihrer Sitzreihe stehen bleibt und auf sein
Ticket schaut. Sie starrt aus dem Fenster und wünscht flehentlich, er möge
weitergehen. (Einmal hatte sie sich auf eine Unterhaltung mit einem
Mitreisenden eingelassen, und es war der längste Flug ihres Lebens geworden. Er
hatte sie zum Scrabblespielen überredet und hartnäckig behauptet, »ug« sei ein
Wort. Seitdem ist ihre Devise: Kein Gespräch auf Flügen.)
Der Mann
sagt: »Na, wird schon stimmen«, und setzt sich neben sie. Das Flugzeug rollt
noch nicht mal in Startposition, und schon versucht der, ein Gespräch anzuzetteln.
Sie nickt kurz in seine Richtung, murmelt ein leises »Mmh«, dreht sich aber
nicht vom Fenster weg. Er verstummt.
Sie wacht
auf vom Schub und von der Schräglage, als das Flugzeug abhebt. Sie hat
geträumt. Wovon? Sie kann sich nicht erinnern. Sie brauchte ihre Unterlagen aus
der Gepäckablage, aber die Anschnallzeichen sind noch an. Sie lässt sich wieder
in ihr Reisekoma sinken und starrt geistesabwesend nach draußen, wo die Wolken
unter ihr sich zu einer endlosen Matratze verdichten.
Sie
studiert ihre Fingernägel und denkt besorgt an Henry, der in den Schulferien
nicht zu seinem Vater nach London will und langsam in das Alter kommt, in dem
sie ihn nicht mehr dazu zwingen kann. Stößt er seinen Papa aus Loyalität zu ihr
vor den Kopf? Hoffentlich ja, hoffentlich nicht. Sie wird ihn trotzdem dazu
zwingen, bis zu einem gewissen Alter. Sagen wir sechzehn?
Herrgott
noch mal! Jetzt reicht's aber! Sie hat versucht, es zu ignorieren, aber wenn
dieser Idiot im Nebensitz nicht sofort ein Stück Platz auf der Armlehne macht,
stopft sie ihm das Maul mit der Kotztüte. Sie macht ihren Ellbogen so spitz
wie möglich und bohrt ihn ganz allmählich in seinen Unterarm. Wann wird er
endlich nachgeben?
Aber er
scheint es gar nicht zu merken, und ihr ist die Berührung widerlich, also gibt
sie auf. Er knibbelt an seinem Daumennagel herum und reißt ein Fetzchen Nagelhaut
ab. Ekelhaft. Sie möchte wissen, wie der Typ aussieht, ihrer Abscheu ein
Gesicht zuordnen, aber sie darf sich nicht zu ihm drehen, sonst erregt sie
seine Aufmerksamkeit. Sie malt ihn sich aus: Amerikaner, Mitte fünfzig, Typ
Loser. Zellulitis, Schuppen, Schilddrüse im Eimer. Bürohengst in einem Lager
für Industrieleitern. Oder IT-Supporter, nach Feierabend Videospieler.
Gürteltasche, Tennissocken, Turnschuhe bis über die Knöchel. Was der wohl in
Rom wollte? Hat sicher aufgeschnappt, da gibt's viel Kultur? Hat sich vorm
Colosseum fotografieren lassen, den Arm um einen Rent-a-Gladiator gelegt?
Das ist
doch lächerlich - wie kommt sie dazu, wegen dieses Idioten elf unbequeme
Stunden zu verbringen? Sie startet einen neuen Angriff auf die Lehne, diesmal
mit verschärftem Druck ihres spitzen Ellbogens auf seinen.
»Hier«,
sagt er und zieht seinen Arm weg, »ich mach Ihnen mal 'n bisschen Platz.«
»Oh,
danke.« Ihre Ohren laufen rot an, scharlachrot von den Ohrläppchen aufwärts.
Jetzt hasst sie ihn erst recht.
»Sorry«,
sagt er. »Hab 'n einnehmendes Wesen. Merke das selber gar nicht. Einfach
schreien, wenn Sie nicht genug Platz haben. Hab leider lange Gräten.« Er
ruckelt erklärend mit den Armen. »Wenigstens haben wir die Plätze am
Notausstieg. Da kann man immer dran erkennen, ob einer schlau ist, der fragt
nämlich gleich danach. Notausstieg ist ja praktisch wie erste Klasse - also,
gesessen hab ich da ja noch nie, aber so stell ich's mir da vor -, aber zum Holzklassenpreis.«
»Ach,
würden Sie mir einen Gefallen tun und mich wecken, wenn das Essen kommt? Wenn
Sie wach sind, natürlich. Danke.« Sie sagt das mit starrem Blick auf die
Rückenlehne des Vordersitzes, danach dreht sie sich wieder zum Fenster und
zieht die Jalousie herunter. Aber das war dämlich. Sie wollte doch gar nicht
schlafen. Sie wollte doch arbeiten. Und muss jetzt so tun als ob. Sie verachtet
den Mann.
Sieben
Minuten vergehen - mehr Als-ob-Schlaf
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