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Rachmann, Tom

Rachmann, Tom

Titel: Rachmann, Tom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Unperfekten
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Hand auf den Kopf, als ob er ihn
abmessen wollte, schiebt beide Daumen unter die Latzhosenträger und zieht. Sie
lässt sich gegen seine Hände sinken, küsst seine Finger und sieht ihn an. »728
Socken letztes Jahr«, sagt sie. »So viele habe ich gewaschen.«
    »Du hast die gezählt?«
    »Natürlich.« Sie greift in die
Waschmaschine und zerrt ein endlos scheinendes Bettlaken heraus.
    Er kniet sich neben sie und
legt ihr die Arme um die Taille. »Ich habe heute frei«, sagt er, »ich helfe dir
gern.«
    Er hat nur selten freie Tage.
Normalerweise beginnt seine Zeitungsfron um sechs Uhr morgens, da guckt er zu
Hause im Internet durch, was über Nacht in den Vereinigten Staaten los war und
was aktuell in Asien los ist. Er checkt die Websites der Nachrichten-Konkurrenz
und beantwortet E-Mails, und er tippt ganz leise, um Annika nebenan nicht zu
wecken. Um sieben steht er an der Bushaltestelle auf der Via Marmorata und
fleht in Gedanken die Linie 30 an, sich zu beeilen. Er ist als Erster in der Redaktion
und macht das Licht an: Im ganzen Newsroom flackern fluoreszierende Strahler
auf wie unwillige Lider von Morgenaugen. Er stellt eine Thermoskanne Kaffee
(amerikanischer Art) auf seinen Tisch und den Fernseher an, er guckt CNN und
BBC durch, dann die eingegangenen Telexe und macht eine Liste, wer welche
Artikel bearbeiten soll. Jetzt kommen auch andere Mitarbeiter: Sekretärinnen,
Techniker, Redakteure, Reporter. Etwa um neun telefoniert er die festen
Auslandskorrespondenten und die wenigen Reporter durch, die die Zeitung noch hat.
Und dann taucht auch Kathleen auf und will aus dem Stand die gesamte Weltlage
wissen. Sie scheint nie richtig zuzuhören, nimmt aber alles auf. »Ruhig heute«,
sagt sie. »Wollen hoffen, dass noch was passiert.« Craig lotst die Hauptartikel
durch alle Stadien: das Schreiben, die Hintergrundrecherchen, das Redigieren.
Er koordiniert die Seitenaufteilung mit dem Layout, legt die Werbeflächen fest,
bestellt Fotos und Grafiken, und zwar in Form wirbelsturmartiger
Telefoniererei. Die Kollegen liegen ihm in den Ohren, er solle mal Pause
machen, nicht aus Sorge um ihn, sondern weil er mit seiner Ackerei alle anderen
auslaugt. Wenn abends die Spätausgabe endlich rausgeschossen ist, gehen alle
nach Hause, nur Craig bringt erst noch den Newsroom zu Bett: Die fluoreszierenden
Strahler erlöschen, wie um schlafen zu gehen. Im Bus zurück nach Testaccio
haben die Schlagzeilen ihn immer noch in der Gewalt, rattern ihm durch den Kopf
wie ein Nachrichtenticker: »Iran testet drei neue Raketen ... Bis 2048 sind
neunzig Prozent der Meeresbewohner ausgestorben ... Oberhaupt der
Evangelikaien tritt zurück wegen Stricheraffäre«. Im Fahrstuhl nach oben meldet
der Nachrichtenticker:
    »Schlüssel rechte Tasche,
sagen Experten ... Sicherheitschloss öffnen, wollen gut unterrichtete Kreise
wissen ... Laut Annika rufen, empfiehlt ein Bericht.« Craig erledigt alles, und
schon erscheint Annika und drückt ihm einen Kuss auf den Mund. Sie manövriert
ihn in die Küche, lässt ihn köchelnde Saucen abschmecken und erzählt von ihrem
Tag. Alles, was bis noch vor einer Minute wichtig war, ist es nicht mehr. Ende
der Nachrichten.
     
    Annikas Tage verlaufen ganz
anders. Sie steht um zehn Uhr auf, trinkt im Stehen über dem Spülbecken ein
Glas Grapefruitsaft, geht mit einem Marmeladentoast auf die Terrasse und
beobachtet, während die Krümel auf den Bürgersteig rieseln, was unten im
Viertel so los ist: Der Security-Typ vor der Bank hängt wie üblich am Handy,
Schuljungs kicken mit Fußbällen herum, kleine alte Damen tippeln in die
Markthalle oder aus ihr heraus. Annika reckt die Arme über den Kopf, stößt
einen Quieker aus, leckt sich die Marmelade von den Fingern. Beim Duschen lässt
sie die Badezimmertür offen, die Haare trocknen von allein, während sie im
Internet surft und Menzies Handybotschaften schickt. Gegen eins geht sie aus
dem Haus und macht einen Spaziergang in der Sonne auf dem Lungotevere. Die
Promenade schlängelt sich von Testaccio bis zum Centro Storico am Tiberufer entlang.
An manchen Stellen hat das flaschengrüne Wasser kleine Wirbel, an anderen liegt
es still da. Der Fluss ist wie so vieles in Rom sich selbst überlassen, ein
Dschungelstreifen, der sich durch das Gegröle der Stadt windet. Unkraut
klettert die Böschungen hinunter, krallt sich im Schlamm fest, schlingt sich um
alles, was an Müll stetig flussabwärts treibt: Plastikflaschen, Möbelreklamen,
Schuhkartons, tausend hüpfende

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