Rachmann, Tom
Zentrale des Ott-Konzerns,
Atlanta
Aus Rom kamen nur noch
hektische Anrufe: Wieder hatte ein Ersatzchefredakteur gekündigt, kein Mensch
hatte mehr das Sagen. Jahrelang war die Zeitung vernachlässigt worden, Boyd
musste etwas tun.
Das letzte Mal war er da gewesen,
als er noch in Yale studierte. Damals hatte er im Hotel gewohnt, er hatte
nicht den Mumm gehabt, der Villa seines Vaters auch nur einen Besuch
abzustatten. Dieses Mal wollte er tapfer sein.
Aber kaum hatte er die Villa
betreten, packte ihn eine düstere Stimmung. Erfuhr mit einem Finger über einen
Bilderrahmen und hinterließ einen geschlängelten Pfad im Staub. Was sollten
die ganzen Bilder hier? Eine Frau mit einem grotesk langen Hals. Weinflaschen
und Hüte. Ein in der Luft hängendes Huhn. Ein Schiffswrack. Die müssen alle
schon zur Villa gehört haben - Ott senior hätte nie Geld für Dekoration
rausgeschmissen. Boyd trommelte die Hausangestellten zusammen, und - ohne sich
die Mühe einer Begrüßung zu machen - trug er ihnen auf, die Villa von oben bis
unten zu schrubben. »Und«, verlangte er, »hängen Sie diese Bilder zu.«
Er schob die Läden auf. Aus
diesen Fenstern hatte sein Vater geguckt, durch den Eisenzaun hindurch, in die
einsame Gasse. Wenn man überlegte, dass er dieses spektakuläre Haus — ganz
abgesehen vom Rest des Familienvermögens — aus dem Nichts erworben hatte. Es
war bewundernswert; und demütigend.
Boyd nahm sich das Wohnzimmer vor,
die himmelhohe Rokokodecke, die zerschlissenen Orientteppiche, die Bücherregale,
das alte Telefon an der Wand. Wie grandios das immer gewesen war, wenn sein
Vater diesen Raum durchmaß! Boyd sah ihn vor sich, wie er über die Teppiche
schritt, dann die Treppe hinauf. Das war Boyds Bild von seinem Vater - immer in
Bewegung. Dass er irgendwo mal still saß, konnte er sich nicht vorstellen. Es
ging ihm tatsächlich nicht in den Kopf, dass Ott senior hier einfach gewohnt
haben sollte, Monat um Monat, am Ende Jahre.
Warum hatte er hier so lange
gelebt? Das war doch nicht sein Zuhause. Das hieß Atlanta. Aber Gebäude
richteten sich eben nach Ott und nicht umgekehrt. Und Ott war der Meinung
gewesen, dass die Welt diese Zeitung brauchte. Also hatte er sich verdammt noch
mal darangemacht, sie zu erfinden. Er saß eben nie still. So war der große Mann
nun mal gewesen.
Beim Gedanken an den
augenblicklichen Zustand der Zeitung wurde Boyd starr vor Zorn und Scham.
Diese Misere beleidigte die Erinnerung an seinen Vater, und dafür trug Boyd die
Verantwortung.
Am nächsten Morgen setzte er
sich mit allen Ressortleitern zusammen und bat sie durchzuhalten - bald komme
ein neuer Chefredakteur. Als er wieder in Atlanta war, beauftragte er eine
Headhunter-Firma, bei einer amerikanischen Spitzenzeitung einen Star
abzuwerben. Jemand Jungen, Strahlenden, mit Schwung. Er bekam zwei der drei
Eigenschaften.
Milton Berber stand nicht mehr
so ganz in der ersten Jugendblüte. Er blickte auf eine lange
Journalistenkarriere bei einer Washingtoner Zeitung zurück, und die hatte
gleich nach seinem Militärdienst im Zweiten Weltkrieg begonnen. Er war
Gerichtsreporter im Lokalteil gewesen, dann zur Außenpolitik versetzt worden,
er wurde nacheinander stellvertretender Lokalchef , stellvertretender
Politikchef Inland, stellvertretender Assistent der Geschäftsführung. war ihm
klar: Höher würde er nicht mehr kommen.
Das ärgerte ihn, denn er war
überzeugt, er wäre ein prima Boss. Aber kein Mensch hatte ihm je eine richtige
Chance gegeben, weder, als er mit einem Armee-Jeep um Neapel herumkutschiert
war, noch während der Redakteursjahre in Washington. Schon richtig, ein Posten
in einer zweitklassigen internationalen Tageszeitung war nicht gerade die
Erfüllung aller Träume. Aber zumindest war er da der Chef.
Boyd flog mit nach Rom und
stellte Milton überall vor. Als Milton die niedergeschlagene Belegschaft
kennengelernt und sich einen Eindruck von der Stimmung im Blatt gemacht hatte,
kamen ihm allerdings Zweifel. Andererseits schien Boyd - nicht gerade einer der
charmantesten Menschen - wild entschlossen zu sein, die Zeitung umzukrempeln.
Und so sagte Milton zu.
Er rief die ganze Redaktion
zusammen und erklärte: »Zeitungen funktionieren wie der Rest der Welt: Sie
sind rein und edel und unbestechlich - solange sie sich das leisten können.
Wenn man sie aushungert, wühlen sie genauso tief im Müll wie jeder andere
Penner. Reiche Zeitungen können es sich leisten, aufrecht zu sein und
meinetwegen auch
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