Rachmann, Tom
haben sie
bestimmt per E-Mail gefeuert. Und irgendwer hat wieder ihren Stuhl geklaut.
Typisch. Sie sieht durch den ganzen Raum. Macht der Typ da eigentlich nie
Feierabend?
»Oh, Entschuldigung«, Menzies
fährt hoch, als sie auf ihn zukommt. »Ich sitze auf deinem Stuhl. Hier, bitte.
Irgendwer hat meinen entfuhrt, und ich dachte, du bist heute nicht da. Ist eine
lahme Ausrede, ich weiß. Der ist erstaunlich bequem, übrigens.«
»Du kannst einen anfordern,
wenn du willst. Bei mir hat's bloß ungefähr sechs Jahre gedauert.«
»Hier.« Er schubst ihr den
Stuhl entgegen. »Da haben wir ja wohl beide die Arschkarte gezogen.«
»Wofür bist du denn heute
zuständig?«
»Im Grunde für den ganzen
Laden. Würg. Mach dich auf alle möglichen Katastrophen gefasst, Kathleen und
Herman haben heute beide frei, ich bin hier allein, und ich schwitze jetzt
schon Blut und Wasser«, sagt er. »Ich hab da übrigens was für dich, das macht
den Stuhlklau bestimmt wieder gut.« Er kramt in seinem Rucksack und zieht eine
CD heraus. »Ich schleppe die jetzt schon tagelang mit mir herum. Vergesse
immer, sie dir zu geben. Weißt du noch, wie wir uns mal gestritten haben, Tony
Bennett gegen Frank Sinatra? Die CD hier dürfte diese Frage eindeutig
entscheiden: >Live at the sands<. Damit konvertierst du zu Frank
Sinatra.«
»Ach, super, danke. Wie
schnell brauchst du die wieder?«
»Die ist für dich.«
Sie legt erstaunt eine Hand
auf die Brust.
»Aber du musst mir dann sagen,
wie du sie findest«, er redet schnell, irritiert über ihre emotionale Reaktion.
»Sinatra macht ein paar tolle Ansagen zu den Songs. Ich glaube, die CD wird dir
gefallen.«
»Das ist aber aufmerksam von
dir.«
»Ist doch bloß 'ne Kopie,
Rubel Nichts von Bedeutung, ehrlich.«
Sie umarmt ihn linkisch.
»Schon gut«, er entzieht sich
ihr, »kein großes Ding. Ach, hast du eigentlich meine E-Mail gekriegt?«
»Welche E-Mail? Gibt's ein
Problem?«
»Ganz und gar nicht. Ging um
den Titel zu der Atomwaffen-Story. Den hast du doch gemacht, oder?«
»Zu der, wie alle Welt
durchdreht wegen Iran und Nordkorea? Hab ich den versemmelt?«
»Im Gegenteil - dein Titel war
spitze: >Der Wahn hat Uran<. Ich kriege ja so Einspalter-Titel nie
gebacken.«
Der weiß eindeutig noch nicht,
dass sie rausfliegt. Den hat offenbar noch kein Mensch eingeweiht.
Ruby rollt ihren Stuhl an
ihren Platz und sieht sich im Newsroom um. Die Jalousien vor den Fenstern sind
kaputt, die Strippen hängen verheddert auf halbmast und legen ein kaputtes
Gitter aus Schatten und Sonnenlicht über die griesgrämigen alten Computer mit
den vor sich hin knörenden Kühlgebläsen. Zwanzig Jahre in diesem Raum. »Mein
ganzes Berufsleben.«
Der Computer braucht ewig, um
hochzufahren. »Jetzt mach schon.« Demnächst ist sie den Job los. »Gott sei
Dank.« Beinahe Zeit zum Feiern.
Der Computer hat aufgehört zu
sirren, er ist bereit. Sie kann sich schon vorstellen, was in der E-Mail steht:
»Ruby, bitte ruf mich zu Hause an. Es geht um ein sehr ernstes Thema. Danke.«
Von wem die wohl kommt? Von Kathleen? Oder von Herman? Oder von Miss Buchhaltung?
Sie loggt sich ein. Die ganze
übliche Mail-Palette erscheint: Die Feiertagsausgabe des WARUM ?-Newsletters; die Mahnung, das Licht im Klo immer
schön auszuschalten, um Geld zu sparen; ein Merkblatt, wie viel jede Minute
Verspätung beim Redaktionsschluss kostet. Und die Kündigung?
Sie geht alle Eingänge noch
mal durch.
Wo zum Teufel ist die?
Sie aktualisiert den
Posteingang, immer wieder. Aber sie kann sie nicht finden. Die ist da einfach
nicht, diese E-Mail. Aber die muss doch da sein. Nein, ist sie einfach nicht.
Ruby schießt hoch, setzt sich
wieder hin, steht wieder auf und rennt in die Damentoilette. Schließt sich ein
und sitzt auf dem Klo, mit der Hand vorm Mund.
Sie atmet hastiger, hat das
Gefühl, von innen anzuschwellen. Eine Träne rollt ihr übers Gesicht, kullert
kitzelnd unters Kinn. Er - so riecht Dario. Das Eau de Toilette von gestern
Nacht. Sie war nicht dazu gekommen, es sich abzuwaschenjetzt setzen die Tränen
den Duft wieder frei.
Sie nimmt ihr Handy. Schluckend
und schniefend holt sie seine Nummer aufs Display. Liest laut seinen Namen.
Lässt das Handy eine Weile zwischen ihren Schenkeln schlenkern und dann ins Klo
plumpsen. Es spritzt und schaukelt im Wasser.
Sie klatscht einmal in die
Hände.
»Ich darf bleiben«, sagt sie.
Sie reibt sich die Augen. Kann
einfach nur noch lächeln. »Ich darf bleiben.«
1975.
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