Rachsucht
Werden neunzig Sekunden lang keine Eingaben vorgenommen, wird die Sicherheitsstufe automatisch zurückgesetzt. Eine erneute Anmeldung ist erst nach zehn Minuten möglich.
Ich startete eine Suche nach »Segue«. Drei Ordner wurden angezeigt.
Der erste enthielt zahlreiche Briefe, Memos und Tabellen. Während ich ständig auf das Klirren eines Schlüsselbunds im Gang lauschte, öffnete ich mit rasender Geschwindigkeit ein Dokument nach dem anderen. Gründungsurkunden von den Cayman Islands. Firmenleitung Kenneth Rudenski, Maricela Vasquez de Diamond und Mikhail Yago …
Dann fand ich die Buchhaltungsunterlagen. Hunderttausende von Dollar liefen durch diese Firma. Zahlungen an Mako, von Mako, an eine Reihe anderer Unternehmen. Sie hatten allesamt Hightechnamen und klangen nach Risikobeteiligung. Und vermutlich hatten sie dieselbe Firmenleitung wie Segue.
Ich holte tief Luft. Segue war also tatsächlich eine an Mako angeschlossene Strohfirma. Eine schwarze Kasse für I-Heist-Geld. Das FBI würde sich für diese Informationen interessieren. Jesse wäre entlastet.
Offenbar hatte I-Heist Kenny Rudenski fest im Griff. Sie waren Partner geworden. Oder eher Parasit und Wirt? Arbeitete
er freiwillig mit diesen Leuten zusammen oder unter Zwang?
Auf jeden Fall musste ich dieses Material an die Polizei weiterleiten. Sofort. Sobald sich Rudenski einloggte, würde er bemerken, dass jemand seine Dateien geöffnet hatte. Und dann würde er dafür sorgen, dass sie verschwanden. Oder dass dieser Jemand verschwand.
Aber wo sollte ich die Dokumente speichern? Ausdrucken kam nicht infrage, außer ich wollte unbedingt erwischt werden.
Nun, ich hatte schließlich E-Mail, und das FBI auch. Ich suchte in meiner Handtasche nach Dale Van Heusens Visitenkarte, aber die lag zu Hause. Also Plan B.
Webmail war eine großartige Sache. Ich warf jede Vorsicht über Bord und loggte mich in mein Konto ein. Die Adresse konnte ich später aus Rudenskis Browserverlauf löschen, aber jeder Softwareentwickler konnte sie mühelos wiederherstellen. Egal. Sollte er ruhig wissen, dass ich am Werk gewesen war.
Ich wählte die Option »Neue Nachricht« und hängte den Ordner mit den Segue-Dokumenten an.
Ein Schlüsselbund klirrte im Gang. Len pfiff vor sich hin. Hatten er und Amber ihr Glück wirklich den Dazzling Delicates zu verdanken?
Das Klirren hörte auf. Ganz schlecht. Ich hatte die Mail noch nicht versendet.
Unter den Schreibtisch. Rudenskis Chefmodell hatte eine geschlossene Walnussfront, hinter der ich mich verstecken konnte.
Irrtum. Der Schreibtisch stand nicht direkt auf dem Boden, sondern auf etwa fünfzehn Zentimeter hohen Füßen.
Von der Tür aus konnte also jeder meinen Hintern sehen.
Bestimmt keine schmeichelhafte Perspektive.
Ich stemmte die Füße gegen die eine Schreibtischhälfte, den Rücken gegen die andere und rutschte nach oben. Die Tür öffnete sich. Ich hielt den Atem an. Das Licht wurde eingeschaltet, und langsame Schritte näherten sich. Was trieb der Kerl? Mir zitterten schon die Oberschenkel.
Wieso verschwand er nicht endlich?
Wie lange hatte ich keine Eingabe mehr vorgenommen? Nach neunzig Sekunden wurde die Sicherheitsstufe zurückgesetzt. Wenn dieser Len sich nicht bald verzog, flog ich aus dem System und konnte mich erst nach zehn Minuten wieder einloggen.
Nun hörte ich direkt über mir Geräusche. Er wählte eine Nummer.
»Harry? Hier ist Len. Ist an der Hintertür eine Frau rausgekommen? Um die dreißig, hellbraunes Haar … Nein, die hatte keinen Besucherausweis und hat im Büro vom Junior rumgeschnüffelt. Hier ist sie aber nicht mehr.«
Hoffentlich trat er nicht um den Schreibtisch herum.
»Okay, wir treffen uns am Lieferanteneingang.«
Ich ließ mich auf den Boden gleiten und schlüpfte aus meinem Versteck. Der Monitor war noch aktiv. Ohne mich aufzurichten, tastete ich nach dem Keyboard und klickte auf »Senden«.
Ich musste weg und konnte nur hoffen, dass das Material Van Heusen reichen würde.
Schon auf dem Sprung schloss ich den Browser. Dabei erschien ein neues Fenster, das mit »Mistryss Cam« überschrieben war. Ein körniges Schwarzweißbild von einer
Webcam, das einen Schreibtisch vor einem Panoramafenster zeigte. Das Fenster ging auf einen Hof und eine Einfahrt im spanischen Stil hinaus.
Das musste Kenny Rudenskis privates Arbeitszimmer sein. Wieso öffnete sich das Fenster von selbst?
Auf dem Monitor erschien eine Meldung. Haustür.
Wie gebannt starrte ich auf den Bildschirm. Durch
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