Rachsucht
Gras bewachsene Böschung ebenso steil bis zum Flussbett ab. Eine Leitplanke war nicht vorhanden.
Jesse bremste und stellte den Motor ab. Eine unheimliche Stille umgab uns.
»Ich lag knapp vor ihm«, sagte er. »Mein Vorsprung betrug höchstens einen halben Meter. Wir hörten nur unseren Atem und das Drehgeräusch der Pedale. Dann kam der
BMW.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Der Motor dröhnte, als hätte Brand ihn völlig überdreht. Ich dachte immer, er hätte nicht schalten können, weil die
Frau auf dem Schalthebel lag. Aber das stimmte nicht. Als er uns entdeckte, gab er Gas.«
Seine Hand krallte sich so fest um das Lenkrad, dass sich die Knöchel weiß verfärbten.
»Der Lärm war ohrenbetäubend. Und dann krachte es. Ich wurde gegen die Windschutzscheibe geschleudert.« Sein ganzer Körper wurde stocksteif. »Der Aufprall war so hart, dass mir die Schuhe von den Füßen flogen. Ich glaube nicht, dass man sie je gefunden hat. Isaac trug eine Halskette mit einem Kruzifix, die Adam ihm geschenkt hatte. Danach war sie weg.«
Jesse blickte über den Straßenrand in die Schlucht.
»Ich bin da runtergestürzt. Eine endlose Zeit flog ich durch die Luft. Dann hörte ich einen Aufprall und merkte, dass es mein eigener Körper war. Ich hab mich immer wieder mit dem Rad überschlagen. Schließlich verlor ich das Bewusstsein.«
Er atmete schwer.
»Als ich wieder sehen konnte, hing ich mit dem Gesicht nach unten auf meinem Fahrrad. Meine Nase war voller Dreck, und ich hatte Gras im Mund. Mir war klar, dass ich schwer verletzt war. Als ich den Kopf hob, sah ich Isaac knapp über mir mit zur Seite ausgestreckten Armen auf dem Rücken liegen. Er hatte das Gesicht abgewandt und rührte sich nicht. Ich hab nach ihm gerufen, wollte aufstehen, aber das ging nicht. Also hab ich wieder seinen Namen gerufen, immer wieder. Sein Kopf, all das Blut …«
Er nahm die Sonnenbrille ab.
»Ich dachte, ich sehe, wie er die Hand bewegt. Dann war ich mir sicher. Er kämpfte um sein Leben. Ich wollte zu ihm und …« Er schloss die Augen. »Ich wollte einfach nur
seine Hand halten. Ihm sagen, dass er nicht allein ist, dass er durchhalten muss. Er lag nur zwei Meter von mir entfernt. Direkt vor meiner Nase.«
Seine Stimme brach. »Und ich konnte mich nicht rühren.«
Er schlug mit dem Rücken seiner Faust gegen die Autotür. »Brand ließ mich mit gebrochener Wirbelsäule im Dreck liegen, und Isaac starb allein.«
Er hieb erneut gegen die Tür, stieß sie auf und schwang die Beine nach draußen auf den Asphalt. Dann zerrte er den Rollstuhl vom Rücksitz und wuchtete sich hinein.
Ich stieg aus. Wir parkten direkt am Rand der Schlucht, und ich achtete sehr genau darauf, wo ich hintrat. Als ich den Wagen umrundet hatte, stand Jesse seitlich auf der Straße und umklammerte die Greifräder, um nicht bergab zu rollen. Entsetzt starrte ich ihn an.
»Jesse …«
»Nicht, Evan.«
Wie ich das hasste! Aber ich biss mir auf die Zunge, rührte mich nicht von der Stelle und behielt die Hände bei mir. Jesse ließ niemanden seinen Rollstuhl schieben. Das galt auch für mich.
Schließlich spannte er die Schultern an und wendete. Nachdem er in einer S-Kurve bergauf um den Wagen herumgefahren war, steuerte er auf den Straßenrand zu. Ich folgte ihm. Von oben näherte sich ein Motorengeräusch. Jesse rollte vom Asphalt auf das Bankett. Kurz vor dem Abhang stoppte er. Erleichtert beobachtete ich, wie er die Bremsen anzog. Ein Pick-up fuhr bergab an uns vorbei.
Ich kniete mich neben ihn. »Mach das nicht, bestraf dich nicht selber.«
»Das ist es nicht. Mir geht’s nicht um Schuldgefühle. Ich rede davon, was Brand Isaac angetan hat. Er hat ihm den einzigen Trost genommen, der ihm im letzten Augenblick seines Lebens vergönnt gewesen wäre.«
Seine Augen leuchteten in der Sonne kobaltblau, als er über die Kante in die Tiefe spähte.
»Ich hasse ihn, Evan.« Er presste die Faust gegen seine Brust. »So sehr, dass es wehtut. Dieses Gefühl frisst mich auf.«
Ich legte ihm die Hand auf den Arm.
»Ich dachte ehrlich, ich wäre darüber hinweg. Das Leben ist zu kurz, um es mit negativen Gefühlen zu verschwenden, hab ich mir immer gesagt. Hass verleiht ihm Macht, dachte ich. Das wollte ich nicht. Aber …« Seine Stimme erstarb. »Aber er hat es absichtlich getan. Falls ich ihm noch mal begegne, kann ich für nichts garantieren.«
Er schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken verdrängen. Dann atmete er tief aus.
»Meine
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