Radau im Reihenhaus
unterbrochen von trockenen Schluchzern.
»Das kommt von der anderen Seite. Die Inder müssen ein Kind haben! Legen Sie mal das Ohr an die Wand!«
Isabell drückte ihre ondulierte Haarpracht an die rosa Stofftapete. »Tatsächlich! Aber die sind gar nicht da. Ich habe sie vor zwei Stunden weggehen sehen.«
»Dann kommen sie sicher bald zurück. Gewöhnlich schlafen Kinder um diese Zeit. Wer weiß, wovon es aufgewacht ist.« Ich wandte mich zum Gehen.
»Aber wenn es nun immer weiter schreit? Ich hab’ doch so gar keine Erfahrung mit Babys.«
»Wir können doch sowieso nichts machen«, sagte ich. »So außergewöhnlich ist es nun wirklich nicht, daß ein Kind nachts mal schreit. Wenn es sich müde gebrüllt hat, schläft es wieder ein!«
»Aber es ist sehr störend«, meinte Isabell ungnädig. »Es klingt auch sehr unmelodisch.«
»Nicht jeder hat einen bühnenreifen Sopran!«
Sofort lebte Isabell auf. »Haben Sie den Unterschied auch schon gemerkt? Es ist doch erstaunlich, wieviel ich schon aus meiner Stimme herausholen kann! Dabei habe ich erst seit acht Wochen Gesangsunterricht. Der Professor meint, in gut zwei Jahren könnte ich schon mit meinem ersten Engagement rechnen.«
Auch das noch! Nicht nur, daß Isabell stundenlang Klavier spielte – wobei sie mehr Pedal- als Fingerarbeit leistete und besonders schwierige Passagen einfach unter den Tisch fallen ließ –, nein, sie sang auch noch dazu! »Mei-hein Herr Marquis, ei-hein Mann wie Sie…«
Vom Komponisten nicht vorgesehene Koloraturen fügte sie selbst ein, und was manchmal durch die leider sehr hellhörigen Wände drang, war eine Mischung von Butterfly, Hello Dolly und Königin der Nacht.
»Wen vergewaltigt sie denn jetzt wieder?« rätselte Rolf, wenn es uns trotz größter Aufmerksamkeit nicht gelang, den Urheber des Liedes herauszubringen. Und nun standen diese Gesangsdarbietungen sogar unter fachmännischer Obhut! Besser wurden sie dadurch zwar auch nicht, aber bedeutend länger.
Etwas wehmütig erinnerte ich mich an Tante Else, die bei uns zu Hause eine Zeitlang das Zepter geführt und beim Kartoffelschälen so richtig schöne Küchenlieder gesungen hatte. Wenn sie weinte, wußte ich nie, ob das von den Zwiebeln kam oder weil Sabinchen ins Wasser gehen wollte.
Auch an den nächsten beiden Abenden holte mich Isabell ins Haus, damit ich mir das Babygeschrei anhören sollte. Dann platzte mir der Kragen.
»Warum kommen Sie eigentlich immer zu uns? Beschweren Sie sich doch bei Botlivalas!«
»Erstens kann man mit denen nicht reden, und zweitens sind sie nie zu Hause.«
Das stimmte nicht. Jeden Morgen hängte Mandelauge Bastmatten über das Geländer, zupfte an ihnen herum, beträufelte sie mit einer farblosen Flüssigkeit, und nach einer Weile holte sie sie wieder herein, schloß die Tür und ward nicht mehr gesehen.
»Soll ich mal mit ihr sprechen?« schlug ich vor.
Dankbar nickte Isabell. »Ach ja, wenn Sie das tun würden? Sie haben viel mehr Erfahrung, und so von Mutter zu Mutter redet es sich leichter.«
Vorausgesetzt, man spricht Indisch. Am folgenden Tag paßte ich auf, wann Mandelauge ihre Matten vom Balkon pflückte, wartete einen Augenblick und ging hinüber. Sie trug einen mattgelben Sari, in dem sie entzückend aussah, und lächelte freundlich.
»Sie haben ein Baby«, begann ich vorsichtig.
»Si, Baby«, bestätigte Mandelauge. »Sehen wollen?«
»Natürlich, gerne«, sagte ich sofort, obwohl ich der Wahrheit halber zugeben muß, daß mich weniger das Baby interessierte als eine indische Wohnung. Deshalb war ich auch ziemlich enttäuscht, als sich das orientalische Interieur als europäische Dutzendware entpuppte. Anscheinend hatte die Baufirma die ursprünglich nur zu Anschauungszwecken hin- gestellten Möbel im Musterhaus belassen und gleich mitvermietet. Das Baby lag in einer Art Körbchen und – schlief!
»Das Indira«, sagte Mandelauge stolz.
Indira war ungefähr vier Monate alt, hatte schwarze Haare und den verkniffenen Gesichtsausdruck eines Finanzbeamten mit chronischem Magengeschwür.
»Nachts schreit Indira sehr viel«, sagte ich betont freundlich.
»Indira schreit viel«, echote Mandelauge bereitwillig.
»Indira schreit auch, wenn Sie nicht zu Hause sind. Abends. Nachts.«
Aufmerksam verfolgte Mandelauge meine Gesten. Ich hielt mir die Augen zu, um den Begriff Dunkelheit zu demonstrieren, malte einen Halbmond in die Luft, trippelte zur Tür und zeigte wieder auf das Baby. »Wenn Sie weggehen, schreit
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