Radegunde von Thueringen
Die ist wohl jetzt nicht mehr nötig, da der kostbare Vogel nach Soisson gebracht wurde“, neckte Agnes.
„Hm. Scheint leer zu stehen, oder?“ Ihr Schritt stockte nur einen kleinen Moment. Chlothar mochte es nicht, wenn sie sich in den weniger feinen Ecken des Hofes aufhielt. Vorsichtig sah sie sich um, ob ihnen vielleicht jemand gefolgt war. Gorrick besaß die Fähigkeit, völlig unerwartet aufzutauchen.
„Du willst doch nicht etwa dorthinein?“ Agnes zog sie am Ärmel. „Komm, lass uns zurückgehen!“
Die letzten Sonnenstrahlen warfen rötliche Schatten über Gras und Erde. Bald würde die Dämmerung hereinbrechen. Irgendetwas zog Radegunde zur Hütte, sie dachte nicht darüber nach, sie ging einfach weiter. Agnes seufzte.
Kurz vor der Baracke aus dicken, grob behauenen Stämmen stolperte sie über einen Stock. Die Verschnürung eines ihrer Lederschuhe hatte sich darunter verhakt. Agnes half ihr. Während sie noch den Lederriemen verknotete, hörten sie gedämpfte Stimmen. Sie schienen aus der Baracke zu kommen.
„Lass uns gehen!“, mahnte Agnes erneut.
„Jetzt können wir auch noch nachsehen!“ Radegunde schlich um die Baracke herum. Fenster gab es nicht, vorn befand sich lediglich eine stabile Tür, die allerdings geschlossen war.
Ein unangenehmer, penetranter Geruch drang durch die Ritzen der Hüttenwände. Sie überlegte, woher sie ihn kannte. Ihr Unterbewusstsein verband ihn mit etwas Furchterregendem, sie spürte plötzlich das Bedürfnis, wegzurennen.
Wieder Stimmen, lauter diesmal. Zwei Männer diskutierten erbittert. Sie hörten ein Klatschen, ein höhnisches Lachen, metallisches Klirren.
Plötzlich begriff sie. In dieser Baracke hielt man Menschen gefangen, der Gestank enthielt die Ausdünstungen aus Angstschweiß, Blut und menschlichen Exkrementen. Sie keuchte.
Jetzt sagte auch ihre Vernunft: Weg von hier! Doch ihre Füße standen still. Schon streckten sich ihre Finger nach dem Riegel der Tür. Ungeschickt drückte sie mit ihrem gesunden Arm den schweren Holzflügel beiseite. Agnes bedeutete sie, draußen zu warten, was diese mit erregtem Schulterzucken kommentierte. Drinnen hörte sie ihren Herzschlag in den Ohren dröhnen.
Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht in der großen Hütte gewöhnt hatten. Sie stand eng an die Wand gepresst und rührte sich nicht. Der Gestank quetschte sich in Mund und Nase und verursachte Atemnot. Sie erkannte an der Rückwand der Hütte eine faulige Schütte, auf der drei oder vier zerlumpte Gestalten hockten. Hand- und Fußgelenke der Männer lagen in Eisen. Sie waren mit Ketten so eng an die Wand gefesselt, dass sie sich nicht aufrichten konnten. Keiner von ihnen bewegte sich oder zeigte eine andere Regung. Rechts von ihr stand ein breitschultriger Mann, auf dessen Rücken sich ein dünner Zopf kringelte – Chlothar. Er redete auf einen der Gefangenen ein und fuchtelte dabei mit einer kurzen Peitsche.
Entsetzt trat sie einen Schritt zurück und tastete nach der Tür. Sie verstand seine Worte nicht, doch sie hörte ihn lachen und die Peitsche singen, bevor sie klatschend auftraf. Der Gefangene bäumte sich auf und sie erhaschte einen kurzen Blick auf sein Gesicht. Es war eingefallen und von einem dunklen, filzigen Bart überwuchert.
Sie erkannte ihn an seinen blauen Augen, die so strahlend geleuchtet hatten, als er von seiner Heimat geschwärmt hatte. Der Mann war Guntram von Burgund. Er hatte mit ihr gemeinsam im Saal gegessen, gescherzt und gelacht. Er war ein Gast Chlothars gewesen!
Sie stolperte zur Tür hinaus und rannte los. Sie rannte, als könne sie den Bildern in ihrem Kopf davonlaufen.
„Gütiger Jesus, was war da drin?“ Agnes stand schwer atmend neben ihr. Sie hatte sie kurz vor dem Gänsepferch eingeholt. Sie zog Radegunde in den Verschlag und schloss die Tür. „Komm, sag schon! Was hast du gesehen?“
„Stell dir vor, er hat den Gesandten von Burgund wie einen jämmerlichen Hund eingekerkert! Noch dazu auf meinem Hof!“ Sie hob hilflos die Hände. „Ich schäme mich!“
„Hier hat er ihn also hingebracht!“
„Du wusstest davon?“
„Bertafrid sagte, dass er den Burgunder gefangen hält. Gunthar sollte ihn dazu bringen, dass er uns bei den Verhandlungen mit dem Burgunderkönig unterstützt.“
„Gunthar!“, stöhnte Radegunde entsetzt.
„Ja. Doch offenbar hatte er bisher keinen Erfolg.“
„Was können wir tun?“
Agnes schwieg.
„Wir schicken einen Boten, der in der Nacht reitet!
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