Radieschen von unten
Knörringer hier?«, fragte Alex.
Die Frau zuckte zusammen und drehte sich um, wobei sie hastig etwas in ihrer Hosentasche verschwinden ließ.
Alex war erstaunt, dass die Frau bei weitem nicht so jung war, wie sie von hinten aufgrund ihrer schlanken Figur und der langen blonden Haare gewirkt hatte. Von vorn wirkte sie knochig, die Falten um Mund und Augen verliehen ihr einen harten Zug. An ihrem ungewöhnlich langen Hals traten deutlich die Muskelstränge hervor. Und die Haare waren mit Sicherheit gefärbt, am Ansatz wuchsen sie dunkel nach.
Jetzt setzte die Frau ein geschäftsmäßiges Lächeln auf und sagte liebenswürdig: »Mein Sohn ist nicht da, aber vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen. Haben Sie einen Trauerfall?«
Alex konnte kaum glauben, dass dies Carlos Knörringers Mutter war. So alt sah sie nun auch wieder nicht aus.
»Einen Trauerfall? Nein, nicht direkt jedenfalls«, antwortete sie und zückte ihren Dienstausweis. »Aber weiterhelfen können Sie mir schon. Es geht um Josef Wilfert. Sie haben doch die Beerdigung seiner Frau organisiert.«
»Ja, und?«, entgegnete Juliane Knörringer und drehte sich wieder zum Sarg um. »Entschuldigen Sie, aber ich habe noch zu tun.«
Alex ging um den Sarg herum und sah darin eine alte Dame liegen. Sie wirkte sehr gepflegt und hatte für ihr Alter eine erstaunlich glatte Haut. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund stand jedoch offen.
»Das passiert, wenn wir nicht rechtzeitig gerufen werden«, erklärte die Bestatterin. »Das Kinn muss vor Beginn der Leichenstarre hochgebunden werden. Aber in diesem Fall ist es egal. Die Angehörigen wollen sowieso keinen offenen Sarg bei der Trauerfeier.«
Alex fragte sich, warum Juliane Knörringer am Blusenkragen der Toten herumzupfte, wenn das Ergebnis sowieso niemand mehr sah. Jetzt legte die Bestatterin sorgfältig die Perlenkette zurecht, die dabei nach unten wegrutschte.
»Hoppla, da war der Verschluss wohl nicht richtig zu«, murmelte sie und legte der Toten die Kette mit geübten Griffen wieder um den Hals. Der Verschluss klickte.
»Wenn das echte Perlen wären, würden die Angehörigen eine so wertvolle Kette sicher behalten, statt sie mit ins Grab zu geben«, sprach Alex ihre Gedanken laut aus.
»Haben Sie eine Ahnung, was Hinterbliebenen alles einfällt«, erwiderte Juliane Knörringer. »Da muss beispielsweise der Mutti ihr geliebter Persianermantel angezogen werden, obwohl der kaum noch in den Sarg passt. Außerdem istdas verboten, weil das Material nicht verrottet. Aber auch bei uns ist natürlich der Kunde König. Und damit Mutti im Grab nicht friert, drücken wir ein Auge zu. Oder die Tote wird von oben bis unten mit ihrem Lieblingsparfum bespritzt, damit sie auch gut duftet. Was für eine Verschwendung!«
Die Bestatterin schob den Blusenkragen beiseite und hob die Perlenkette an. »Und diese Perlen sind sehr wohl echt. Schauen Sie sich doch die perfekte Kugelform an und die glatte, seidige Oberfläche, die das Licht reflektiert. Sehen Sie den rosafarbenen Schimmer? Bei Tageslicht erkennt man das noch besser. Die Kette ist ein kleines Vermögen wert.«
Sie ließ die Perlen wieder los – fast ein wenig widerwillig, fand Alex – und richtete dann die Frisur der Toten.
Alex verfolgte die routinierten Bewegungen von Juliane Knörringer, die sich offenbar bemühte, die Haare schöner um das Gesicht zu drapieren. Dabei blieb Alex’ Blick an den Ohrläppchen der Toten hängen. Sie hatte ausgeprägte Ohrlöcher, die jedoch leer waren. Zu der wertvollen Perlenkette hatten sicher passende Ohrringe gehört. Vielleicht hatte die Familie diese als Andenken behalten.
Alex wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sich die Bestatterin in ihr Blickfeld schob und nun von der anderen Seite frisierte. Alex trat einen Schritt zurück und besann sich auf ihr Anliegen.
»Frau Knörringer, Sie kannten doch Herrn Wilfert. Erzählen Sie mir von ihm.«
Die Bestatterin drehte sich um. »Selbstverständlich. Aber lassen Sie uns doch nach nebenan gehen. Da können wir uns hinsetzen.«
Sie dirigierte Alex in die Aussegnungshalle, und die beiden setzten sich in die erste Stuhlreihe. Juliane Knörringerhielt sich sehr gerade und überragte Alex noch im Sitzen um einiges. Alex ließ sich neben ihr nieder und sah sie auffordernd an.
»Ja, also … Herr Wilfert hat uns angerufen, als seine Frau gestorben war. Das genaue Datum müsste ich nachschauen. Aber ich weiß noch, dass es früh am Morgen war, so gegen sieben Uhr. Ich habe
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